Die alten Chinesen sahen in ihr einen mächtigen Drachen und den
Bewahrer der Nation. Heute denkt man eher daran, dass sie das
einzige von Menschen geschaffene Bauwerk ist, das mit bloßem Auge
vom Weltall zu erkennen ist. Unzählige Legenden ranken sich um das
Bauwerk, das als eines der 7 Weltwunder gilt, die Große Chinesische
Mauer. Dabei ist die wahre Geschichte erstaunlich genug.
Über fünf tausend Kilometer lang windet sich die Große Mauer durch
die Landschaft. Kein anderes von Menschenhand erschaffene Werk kann
sich mit ihr vergleichen. Ihre Entstehung ist eine Geschichte des
Lebens und der Erfolge, ihren Ursprung hat sie in Chinas fernster
Vergangenheit. Am Anfang waren einzelne Bauern, die ihre Ernte und
ihr Vieh vor wilden Tieren, Dieben und Erosion schützen wollten.
Deshalb errichteten sie aus Feldsteinen kleine Mauern. Um sich vor
Räuberbanden zu schützen, umgaben sich bald auch ganze Gemeinden
mit Mauern.
Chinas erster Kaiser, Ying Zheng, sah sich 220 vor Christus vor die
Aufgabe gestellt, einen schrecklichen übermächtigen Feind
abzuwehren. Denn im Norden lebten die Hunnen, aggressive Reiter und
gefürchtete Bogenschützen. Selbst aus vollem Galopp schickten sie
ihre Pfeile treffsicher ins Ziel. „Die Hunnen leben ausschließlich
von Fleisch, tragen Felle und haben keine Häuser. Sie ziehen umher
wie Vögel in der Wildnis“, schrieb damals ein Minister des
Kaisers.
Um
sein Reich gegen diese Nachbarn abzuschotten, ließ Kaiser Ying
Zheng entlang der Nordgrenze seines Reiches eine Mauer errichten.
Diese Mauer wurde gewaltig – die Große Mauer war das aber noch
nicht. Was heute diesen Namen trägt, wurde erst über tausend Jahre
später gebaut – nämlich zur Zeit der Ming-Dynastie, der vorletzten
Monarchie in der chinesischen Geschichte. Schon bestehende Wälle
wurden damals miteinander zur Großen Chinesischen Mauer verbunden.
Auch die Mauer, die der erste Kaiser Ying Zheng errichtet hatte,
ging in diesem Monument auf. Am Badaling- Pass, nahe Beijing, hat
sich ein Stück dieser Mauer aus ältester Zeit bis heute erhalten.
Das Interesse der Menschen an der alten großen Mauer ist auch heute
ungebrochen und wächst ständig, erzählt Li Man, Chef für
Verwaltungsbüro des Badaling- Abschnitts der Großen Chinesischen
Mauer:
„Inzwischen interessieren sich immer mehr Touristen für das
ursprüngliche Bild der Großen Chinesischen Mauer – nicht nur für
die neu renovierten Abschnitte, auch für die Ruinen. Das Interesse
an der Kultur, der Legenden und der hintergründigen Geschichte der
Großen Chinesischen Mauer ist enorm groß.“
Mauern zu bauen, um Grenzen zu setzen, wo der Himmel oder die Natur
dies versäumte, war eine liebgewordene Regel bei den chinesischen
Herrschern in der damaligen Zeit.
Doch nicht alle Kaiser setzten auf die Mauer, um den Frieden für
das Reich zu erhalten. Einige vermählten ihre Töchter mit den
Führern der Nomadenstämme im Norden, um Feindschaften zu beenden.
War die Prinzessin schön und brachte Pferde mit in die Ehe, war der
Friede schnell besiegelt. Nicht alle Nomadenstämme ließen sich so
besänftigen. Aber für die gab es ja noch die Mauer. Immerhin war
diese nicht so einfach zu überwinden. Um die Mauer zu durchbrechen,
wäre eine lange Zeit der Belagerung notwendig gewesen. Darauf
wollten sich die viehzüchtenden Nomaden nicht einlassen. So hielt
die Mauer den Feinden des Kaisers stand – bis Dschingis Khan vor
ihr erschien.
Gerade das Wissen um die Gefahr, die von den Stämmen aus dem Norden
drohte, veranlasste die Kaiser der Ming-Dynastie zum größten
Bauvorhaben aller Zeiten. Nahezu 200 Jahre lang arbeiteten
Soldaten, Bauern und Gefangene Seite an Seite, um die Große
Chinesische Mauer zu bauen. Den meisten ging es nicht besser als
Sklaven, ihr Leid überdauert die Zeit in Gedichten:
„Gebäre keine Knaben, ernähre die Mädchen mit Fleisch;
die Große Mauer im Norden ist auf Gebeine gebaut.
An
der Nordgrenze ist von Menschen keine Spur.
Nur das Heulen der Geister erfüllt die Luft.“
Oft beauftragten die Ming-Kaiser die Architekten, auf den
Wachtürmen Statuen von Kriegsgöttern zu setzen. Die
furchterregenden Krieger sollten zusammen mit den Statuen der
Kriegsgötter die Feinde abschrecken, so wie der Kaiser es wollte.
Und Abschreckung tat not. Denn immer wieder rannten Feinde gegen
die Mauer an. Würde sie fallen, wäre das Reich verloren. Keine
Mauer der Welt ist hoch und dick genug, um ein untergehendes Reich
vor seinem Verfall zu schützen. Auch die Große Chinesische Mauer
ist ein Zeugnis mehrerer Machtwechsel – des Sturzes der
Ming-Dynastie zum Beispiel. Der letzte Kaiser der Ming-Zeit galt
als ein politischer Versager. Bald konnte das Volk seine Tyrannei
nicht mehr ertragen. Immer öfter kam es zu Bauernaufständen. Nicht
die Mongolen aus dem Norden, sondern die vom Kaiser unterdrückten
Han-Bauern stürzten sein Reich. Li Zicheng war eines der
Bauernführer. Seine Freiwillige Armee war bei Badaling über die
Mauer in die kaiserliche Hauptstadt Beijing eingedrungen und hatte
die Monarchie umgestürzt. Dazu noch einmal Li Man:
„Ein berühmtes historisches Ereignis rankt sich um diesen Abschnitt
bei Badaling. Hier war der Schauplatz einer Schlacht zwischen der
freiwilligen Bauernarmee unter Führung von Li Zicheng und der
kaiserlichen Wehr. Nach einer langen Zeit der Konfrontation
zerfielen die Truppen des Kaisers und die Bauern drangen
unaufhaltsam in die Hauptstadt ein. Der Sieg der Bauern ist sehr
lehrreich und sinnvoll. Wie solide die Schutzmauer auch immer ist,
sie kann den Verfall der Macht nicht aufhalten, wenn das Volk ihr
den Rücken kehrt. “
Der Bau der Großen Chinesischen Mauer war eine extrem mühsame und
schwere Arbeit. Zuerst wurden zwei sieben Meter hohe
Ziegelsteinmauern errichtet. Die hatten einen Abstand von sieben
Metern voneinander. Zwischen die Mauern wurde Erde geschüttet und
festgestampft. In diesem Zwischenraum haben auch Hunderttausende
Arbeiter ihre letzte Ruhe gefunden.
So
entstand die Große Chinesische Mauer.
Am
Ende war sie so breit, dass 5 Pferde oder 10 Krieger bequem
nebeneinander Platz auf ihr hatten. Mit Zinnen versehene Wehrgänge
boten den Soldaten Deckung und Schutz vor dem Feind.
So
wichtig wie die Mauer selbst, die meist nur wegen ihrer Größe
gerühmt wird, waren im Verteidigungsfall die Türme. Sie waren von
strategischer Bedeutung und wurden ganz besonders raffiniert
angelegt. Die Angreifer mussten sich hier einen Berg hinaufkämpfen
und dabei immer wieder neue Mauern überwinden. Die Verteidiger
konnten sich von Mauer zu Mauer immer weiter zurückziehen, bis sie
sich schließlich in der eigentlichen Festung verschanzten. Die
Festung war spartanisch, aber solide. Sie bot 30 bis 50 Soldaten
Platz. Meist kämpften sie nur gegen Kälte, Langeweile und Hunger.
Und mussten doch ständig kampfbereit sein. Neue Waffen zur Abwehr
der Feinde wurden erfunden: Hindernisse aus Metall, an denen sich
die Pferde der Angreifer verletzen sollten, oder primitive
Handgranaten und Sprengkörper und schließlich eine Kanone mit einer
gewaltigen Feuerkraft.
Im
chinesischen Volksmund heißt es „Wer nicht einmal die Große Mauer
besteigt, ist kein richtiger Kerl“, aber auch so ist die Große
Chinesische Mauer ein touristischer Publikumsmagnet. Wir haben auf
der Großen Mauer Herrn Qi getroffen, er erzählte uns, was ihn an
dem architektonischen Bauwerk beeindruckt hat:
„Ja, man sagt, wer nicht einmal die Große Mauer besteigt, ist kein
richtiger Kerl. Ich war vor 15, 16 Jahren in Beijing und hatte
damals leider keine Zeit, die Große Mauer zu besichtigen. Jetzt bin
ich wiedergekommen. Die Mauer ist wirklich ein Wunder. Ich
bewundere wirklich die Intelligenz und die Kraft der
Frontarbeiter.“