Alte Dörfer in Südanhui

Im Süden der ostchinesischen Provinz Anhui gibt es einige alte Dörfer, die fast im Originalzustand erhalten geblieben sind und so einen Blick in die Geschichte ermöglichen.

Noch in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man nur per Boot in die benachbarten Dörfer Xidi und Hongcun im Kreis Yixian gelangen. Auf den ersten Blick muten die Dörfer an, wie das utopische Land, das der Dichter Tao Yuanming vor mehr als 1.600 Jahren beschrieb - kleine Hütten mit weißen Wänden und schwarzen Dächern, murmelnde Bäche und Pfirsichblüten. Die Einheimischen nennen sich daher auch gern „Bürger des Utopischen Landes der Pfirsichblüten".

Das am Fuße eines Hügels liegende Dorf Hongcun entstand vor rund 1.000 Jahren. Ein Bächlein schlängelt sich durch das kleine Dorf. Vor mehreren Generationen haben die Dorfbewohner Kanäle angelegt und den Bach an den Häusern des Dorfes entlang geleitet. Die Einheimischen brauchten so keine weiten Strecken mehr zurückzulegen, um Trinkwasser zu holen oder Wäsche zu waschen. Aber wie kam es zu der Umleitung des Baches?

Die Häuser in Hongcun stehen dicht nebeneinander. Wäre in einem Haushalt ein Brand ausgebrochen, hätte dieser sofort auf das Nachbarhaus übergegriffen und in Windeseile das ganze Dorf gefährdet. Angesichts dieser Gefahr bat einmal ein Dorfältester den Weisen He Keda um Rat. Der besah sich die Sache, überlegte lange und schlug nach 10 Jahren intensiven Nachdenkens schließlich vor, mehrere Kanäle zu bauen und den Bach so umzuleiten, dass er an jedem Haus vorbei fließen würde. So machten sich die Bewohner an die Arbeit und die Kanäle verbinden nunmehr den Teich, den ausgebauten Brunnen und den Nanhu-See neben der Schule. Auch versorgt der umgeleitete Bach das Dorf nun mit klarem Trinkwasser und die Frauen treffen sich am Bach und waschen dort ihre Wäsche.

Harmonie findet man in Hongcun nicht nur zwischen Mensch und Natur, sondern auch unter den Bewohnern selbst. Damit jede Familie aus den Kanälen sauberes Wasser holen konnte, wurde vor 8 Jahrhunderten die Regelung verfügt, dass man jeden Tag vor 8 Uhr morgens aus dem Wassersystem Trinkwasser holen sollte, Wäsche waschen durfte man dann erst am Vormittag. Diese überlieferte Regel wird noch heute streng eingehalten.

Die Bewohner der Siedlungen sind Nachfahren von Flüchtlingen aus Zentralchina, die nach Anhui in Ostchina kamen, um von Kriegen verschont zu bleiben. Die Ahnenhalle ist ein wichtiger Ort im Dorf. Sie verbindet die ganze Familie mit den Vorfahren. Hier spielten sich Jahr für Jahr rituelle Zeremonien ab. Entscheidende Fragen der Familie wurden vor der Ahnentafel diskutiert. Das Gebäude erinnert die ganze Familie von Generation zu Generation an den Sinn des Zusammenhalts, an die schwierigen Jahre, in denen die Vorfahren als Flüchtlinge hierher kamen und hier neue Wurzeln schlugen.

Streit innerhalb der Familie sei Sünde, diese Mahnung erhielten schon die Kleinkinder mit auf den Lebensweg. Auch sonst begann das Lernen für die Kinder beizeiten, galt es doch, sich auf die kaiserliche Prüfung vorzubereiten. Wer die Klassiker des Konfuzianismus auswendig wusste und bei der Prüfung komplizierte Texte verfassen konnte, dem öffnete sich ein vielversprechender Weg zum kaiserlichen Beamten oder Minister.

Aber nicht jedes Kind hatte natürlich das Glück, diese erstrebenswerteste aller Karrieren einzuschlagen. Wer die kaiserliche Prüfung nicht schaffte, hatte eine Alternative: Die Ausbildung zum Kaufmann. Kaufleute und Beamte standen in engem Kontakt, und Familienbande spielten dabei eine besonders wichtige Rolle. Fette Pfründe und Schmiergelder flossen in die Taschen der Beamten, und die Kaufleute erhielten im Gegenzug behördlichen Segen für gewinnträchtige Unternehmungen. Die reichsten Händler der Zeit vor vier, fünf Jahrhunderten stammten zum großen Teil aus Südanhui. Sie hatten den Handel mit Tee, Steinen, Holz und Salz fest in ihren Händen - ein behördlich geschütztes Monopol.

Das hatte natürlich seinen Preis und so flossen aus den reichlichen Gewinnen reichliche Schmiergelder für die Beamten, soweit sie zur Familie gehörten. Mit deren Rückendeckung expandierten die Kaufleute ihre Geschäfte, sie machten noch mehr Geld zum Nutzen der Familie. Kaufleute und Beamte profitierten - ein goldener Kreislauf, fast eine Lizenz zum Gelddrucken. Der Reichtum lässt sich auch an den prachtvollen Wohnhäusern und ihrer feinen Dekoration und Ausgestaltung ersehen. An einem 2.100 Quadratmeter großen Hof zum Beispiel: Der Hof selber ist eine Welt verschiedener Holzschnitzereien. Die Dekorationen sind kreativer als die in den kaiserlichen Palästen in Beijing.

Sowohl die Anzahl als auch der künstlerische Wert der Stein- und Holzschnitzereien aus Südanhui waren landesweit führend. Die Baumeister hatten großes Wissen und viel Erfahrung, da die reichen Familien oft große Aufträge vergaben. Durch die vielen Bauaufträge verbesserten die Arbeiter wiederum ihr Können. Überhaupt war die Bevölkerung vergleichsweise gut gebildet. Dies war eine weitere Bedingung dafür, dass die Gebäude mit besonders feinen und geschmackvollen Dekorationen verziert wurden. Zudem konnten die Techniker und Bauarbeiter hier ihre Kreativität unbeschränkt entfalten, was in der Hauptstadt Beijing wegen der strengen kaiserlichen Vorgaben unmöglich war.

Die Gebäude in Hongcun und Xidi sind nicht einfach nur Gebäude, sie sind mehr: Sie sind Träger von Moral und Werten. Ahnenhallen, oft mit himmelwärts ragenden Dächern und schwarzen Toren, sind die höchsten Gebäude in den Siedlungen. In der Ahnenhalle Jing-Ai-Tang zum Beispiel hängt ein Bild von gewaltiger Dimension. Darauf steht das chinesische Schriftzeichen "pietätvolle Liebe".

Frauen galten nicht viel in der damaligen konfuzianisch geprägten Welt, zumal in Hongcun und Xidi, die Hochburgen des Konfuzianismus waren. Andererseits jedoch widmeten ihnen die Architekten imposante Ehrentore. Die Ehrentore heißen „Monumente für Frauentugend". Die Frauen gebären Kinder, sie führen den Haushalt, sie kümmern sich um die Schwiegereltern, wenn die Männer jahrelang in anderen Provinzen Geschäfte machen. Die Strohwitwen mussten alleine alle Schwierigkeiten überwinden und auch die Einsamkeit hinnehmen. Denn das Glück der Familie galt als wichtiger als eigenes Glück. Die im Konfuzianismus fest umrissenen und verankerten Tugenden mussten streng eingehalten werden. Das letzte Ehrentor für Frauentugend in Südanhui wurde noch 1905 gebaut. Auf dem Tor steht "Den 65.078 Frauen der Ortschaft". Mehr brauchte und konnte auch nicht gesagt werden, denn Namen hatten sie ohnehin nicht...

1905, als das letzte Ehrentor errichtet wurde, ging der Feudalismus in China seinem Ende entgegen. Dies kündigte auch das Ende des Reichtums der einst durch so innige Familienbande mit der kaiserlichen Bürokratie verflochtenen Kaufleute aus Südanhui an.

Mit dem Sturz der Monarchie fiel auch die Pracht der Händler aus Südanhui der Vergessenheit anheim, bis schließlich ein Fotograf aus Hongkong mit seiner Kamera die in Stein und Holz verewigte Geschichte und die Erinnerungen aus dem Alten China wieder ans Licht brachte. Die ganze Welt lernte durch seine Bilder die beiden Kaufmannsdörfer kennen.

Der primäre Wert der Siedlungen bestehen darin, dass sie Träger der Geschichte sind. An ihnen können wir heute ersehen, wie das Leben vor Jahrhunderten aussah, besonders in der Ming- und der Qing-Dynastie. In künstlerischer und ästhetischer Hinsicht markierten diese Siedlungen einen Gipfel in der alten chinesischen Architekturgeschichte.

(CRI/China.org.cn, 11. Februar 2004)