Die Anzahl der Armen in China steigt

Die Anzahl der armen Menschen in China ist seit 25 Jahren zum ersten Mal wieder gestiegen. Bereits im Juli hatte Liu Jian, Vizeleiter der Führungsgruppe für die Überwindung der Armut durch Entwicklung beim Staatsrat, vor der Presse bekanntgegeben, dass die Anzahl der armen Menschen in China im Jahr 2003 um 800.000 Menschen gestiegen sei. Den offiziellen Statistiken zufolge belief sich im Jahr 2002 die Gesamtzahl der Menschen, die in Armut leben, auf 28,2 Mio., doch Ende 2003 stieg sie auf 29 Mio. Die 800.000 neu verarmten Menschen lebten hauptsächlich in den ländlichen Gebieten. Chinas Programm für die Überwindung der Armut durch Entwicklung sei mit einer sehr kritischen Lage konfrontiert, sagte Liu damals.

Im Jahr 1978 begann die chinesische Regierung, das Programm für die Überwindung der Armut durch Entwicklung durchzuführen. Als Folge hatte sich 25 Jahre später die Anzahl der armen Menschen in China von 250 Mio. auf 28,2 Mio. reduziert. Das Programm war also ein großer Erfolg. Obwohl China Anstrengungen unternahm, um den Lebensstandard der restlichen 28,2 Mio. armen Menschen zu verbessern, stieg die Anzahl der Armen jedoch wieder an.

Liu meint der Anstieg der Anzahl der armen Menschen sei auf Naturkatastrophen zurückzuführen. Die meisten armen Menschen lebten in Orten mit schlechten natürlichen Bedingungen, einem unzulänglichen Sozialabsicherungssystem und einem niedrigen Entwicklungsgrad der Gesellschaft. Selbst wenn sie ihre Nahrungs- und Kleidungsfrage gelöst haben, fallen sie, wenn sie von einer Naturkatastrophe heimgesucht werden, wieder in die Armut zurück. Im Jahr 2003 sind in den Provinzen Henan, Anhui, Shanxi und Heilongjiang über 2 Mio. Menschen infolge Naturkatastrophen wieder in die Armut geraten.

Dang Guoying, Forschungsrat des Forschungsinstituts für Ländliche Wirtschaft bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, meint jedoch, dass Naturkatastrophen nicht der einzige Grund für den Anstieg der Anzahl der armen Menschen seien. Es gebe noch andere Gründe: Erstens lasse der Effekt der Investition in die Überwindung der Armut wie der anderer Investitionen immer mehr nach. Dies mache es schwierig, das Ziel des Programms für die Überwindung der Armut zu erreichen. Zweitens wollten einige Menschen aufgrund religiöser oder kultureller Gründe den modernen Lebensstil nicht annehmen. Drittens würden die Fonds für die Unterstützung der Armen von manchen Lokalregierungen zweckentfremdet.

Einem Rechnungsprüfungsbericht zufolge, der von der Nationalen Rechnungskammer veröffentlicht wurde, haben die Regierungen aller Ebenen vom Jahr 1997 bis zur ersten Hälfte des Jahres 1999 insgesamt 48,8 Mrd. Yuan (5,89 Mrd. US$) in 592 arme Kreise investiert, davon sind 4,34 Mrd. Yuan (524 Mio. US$), also knapp 10 Prozent, jedoch zweckentfremdet worden.

Viele Menschen sind der Ansicht, dass die Inanspruchnahme von Ackerböden für Bauprojekte zum Rückgang des Lebensstandards der Bauern geführt habe. Sie meinen zudem, dass die Ineffizienz einiger lokaler Regierungen und ihre ablehnende Haltung gegenüber der Politik der Zentralregierung für die Entlastung der Bauern die Durchführung des Programms für die Überwindung der Armut behindert hätten.

Die chinesischen Beamten, die für die Überwindung der Armut verantwortlich sind, sorgen sich am meisten darum, ob die Anzahl der armen Menschen infolge der Auswirkungen von Naturkatastrophen im Jahr 2004 weiter gestiegen ist.

Die gegenwärtige kritische Lage bei der Überwindung der Armut kommt hauptsächlich in den folgenden Aspekten zum Ausdruck: Erstens hat sich der Prozess der Überwindung der Armut verlangsamt. In den 1990ern haben jährlich 6 Mio. arme Menschen in den ländlichen Gebieten ihre Nahrungs- und Kleidungsfrage gelöst, in den ersten zwei Jahren dieses Jahrhunderts waren es aber nur knapp 2 Mio. Menschen. Zweitens hat sich die Kluft zwischen dem Einkommen der armen Bauern und dem der anderen Bauern vergrößert. Das Jahreseinkommen der armen Bauern betrug im Jahr 2003 rund 637 Yuan (58,8 €) im, während das Durchschnittseinkommen der Bauern im ganzen Land bei 2.622 Yuan (242 €) lag. Das Verhältnis zwischen den Einkommen betrug also 1:4,12, im Vergleich zu 1:2,45 im Jahr 1992. Diese große Kluft zeigt, dass die Armen während der gesellschaftlichen Entwicklung benachteiligt sind.

Chinesischen Medien zufolge besteht das größte Problem in der Durchführung des Programms für die Überwindung der Armut darin, dass der positive Effekt der Politik für die Unterstützung der Armen beginnt nachzulassen. Im Anfangsstadium der Reform förderte die Politik über die vertragliche Bewirtschaftung des Bodens durch einzelne Bauernhaushalte beträchtlich die Entwicklung der ländlichen Wirtschaft, wodurch die Anzahl der armen Menschen in großem Ausmaß reduziert wurde. Aufgrund des langsamen Prozesses der Steuer- und Gebührenreform in den ländlichen Gebieten, der schweren Belastung der Bauern und der häufigen Fluktuation der Landbevölkerung in den letzten Jahren liegen große Flächen Ackerboden jedoch brach. Dies hat das Wachstum des Einkommens der Bauern verlangsamt. All diese Faktoren setzen die Arbeit zur Überwindung der Armut unter Druck.

"Das Programm für die Überwindung der Armut sollte direkt in jedem Dorf und in jedem Hauhalt durchgeführt werden. Außerdem sollten die verarmten Familien ermutigt werden, ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln, ständig zu erhöhen. Wir sollten zudem die Wirtschaft der armen Gebiete aktiv entwickeln", heißt es in einem Bericht der Renmin Ribao (Volkszeitung).

Dang Guoying ist der Ansicht, dass der Anstieg der Anzahl der armen Menschen die Zentralregierung zwingen wird, die Konzepte, die Methoden und den Effekt der Arbeit zur Überwindung der Armut aufs neue zu überdenken: "Wir können nicht damit rechnen, dass jeder Bauer durch das Programm von der Armut befreit wird. Die Regierung sollte den Bewohnern der Gebiete mit schlechten Naturbedingungen helfen, nach anderen Orten umzusiedeln. Was die Armut, die durch religiöse oder kulturelle Faktoren verursacht worden ist, anbelangt, kann die Regierung mit dem Aufbau von infrastrukturellen Einrichtungen beginnen, um die Entwicklung der dortigen Wirtschaft zu fördern. Außerdem sollte sich die Regierung darum bemühen, den Nutzeffekt der Unterstützungsfonds für Arme zu verbessern, und keinen Pfennig für nutzlose Projekte aufwenden."

Auf der Internationalen Konferenz über die Überwindung der Armut, die im Mai 2004 in Shanghai stattfand, versprach die chinesische Regierung der Welt, energisch danach zu streben, bis zum Jahr 2010 die Nahrungs- und Kleidungsfrage der Armen zu lösen, und bis zum Jahr 2020 eine sogenannte "Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand" zu verwirklichen. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, hängt von den Konzepten, den Arbeitsmethoden und der Arbeitsleistung der chinesischen Regierung in der Durchführung des Programms für die Überwindung der Armut in der Zukunft ab.

(Beijing Rundschau/China.org.cn, 12. Januar 2005)