Soziologe plädiert für Konzept einer harmonischen Gesellschaft
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Der Aufbau einer harmonischen Gesellschaft in China ist eines der wichtigsten Themen bei den diesjährigen Tagungen von Nationalem Volkskongress (NVK) und Politischer Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV). Doch was genau macht eine harmonische Gesellschaft aus, und ist es überhaupt möglich, eine solche aufzubauen? China.org.cn interviewte dazu den auf diesem Gebiet führenden Soziologen Dr. Li Peilin. China.org.cn: "Ein Beschluss des 4. Plenums des 16. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus dem Jahr 2004 setzt den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft, in der jeder Mitbürger das Recht auf Leben hat, auf die oberste Tagesordnung der Partei. Wie kam es zu dem Beschluss?" Dr. Li: "Dieser Beschluss lässt sich als unabdingbare Folge der sozialen Entwicklung in China interpretieren. In den 26 Jahren seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik hat China gewaltige Veränderungen in seiner Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur erfahren. Für so ein großes Land mit so einer riesigen Bevölkerung bedeuteten diese Umwälzungen innerhalb kürzester Zeit aber auch Probleme und Schwierigkeiten. Dazu zählen die wachsende Einkommenskluft zwischen Arm und Reich, die ungleiche Entwicklung von Stadt und Land, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und eine zunehmend alternden Bevölkerung. Früher war man der Ansicht, dass sich all diese Probleme entweder von selbst lösen würden oder durch wirtschaftliche Entwicklung und wachsenden Wohlstand an Bedeutung verlieren würden. Doch wirtschaftlicher Erfolg und Marktwirtschaft sind kein Patentrezept für alles. Aus diesem Grund ist es für China absolut notwendig, den Weg nach einer harmonischen Gesellschaft zu suchen." China.org.cn: "Sie sprechen von einer entscheidenden Phase für wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Warum ist eine soziale Harmonie für Chinas Modernisierungsdrang von so großer Bedeutung?" Dr. Li: "Fakt ist, dass sich China in den letzten zehn Jahren sowohl wirtschaftlich als auch sozial prächtig entwickelt hat. Zum Beispiel erhöhte sich das BIP im vergangenen Jahr um rund 9,5 Prozent bei gleichzeitigem Anstieg der Konsumentenpreise auf rund 3 Prozent. Daneben fand auch der erste Rückgang der Arbeitslosenrate seit 1991 und ein historischer Anstieg des Bauerneinkommens statt. Von einer entscheidenden Phase kann man sprechen, wenn das Pro-Kopf-BIP eines Landes zwischen 1.000 und 3.000 USD beträgt. Soziologisch gesehen befindet sich China derzeit in einer Übergangsphase. Aus internationaler Erfahrung spricht man in diesem Zusammenhang von einem schnellen Übergang der Industriestrukturen, dramatischen Wandel der sozialen Interessen und neuen Aufgaben bei den existierenden politischen und amtlichen Institutionen. In den 1970-ern haben einige Länder einen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Dabei konnten manche Länder durch die Lösungen sozialer Konflikte sogar ein Pro-Kopf-BIP zwischen 10.000 und 20.000 USD erzielen. Andere wiederum erreichten wegen solcher ungelösten Probleme nur ein BIP von lediglich 4.000 USD oder weniger. China ist durch diese Erfahrungen gewarnt und fordert von seiner Regierung die Suche nach Lösungen für soziale Probleme und den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft zu betreiben. Letztendlich entwickelt sich die Reform- und Öffnungspolitik, die dem Land und seiner Bevölkerung zugute kommt, dadurch weiter." China.org.cn: "Welche Merkmale erfüllt eine harmonische Gesellschaft?" Dr. Li: "Als erstes ist eine harmonische Gesellschaft relativ wohlhabend, denn materieller Wohlstand ist für die soziale Harmonie von fundamentaler Bedeutung. Doch auch die Verteilung sozialen Wohlstands und die Koordination sozialer Interessen sind entscheidende Faktoren. Auch ein gewisses Maß an Gleichheit und Gerechtigkeit, das der gesamten Bevölkerung das Partizipieren an Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung garantiert, charakterisiert eine harmonische Gesellschaft. Zweitens muss eine harmonische Gesellschaft stabil sein und über Recht und Ordnung verfügen. Eine harmonische Gesellschaft ist voller Vitalität. In einer idealen Gesellschaft florieren Arbeit, Wissen, Technologie, Management und Kapital und bewegen sich frei. Drittens, bedeutet eine harmonische Gesellschaft nicht nur Harmonie zwischen den unterschiedlichen Interessen, sondern auch Harmonie in den Werten. In einer harmonischen Gesellschaft leben und arbeiten die Menschen in Frieden und Zufriedenheit. Sie machen Karriere und sind guter Dinge. Gleichzeitig verfügt die Mehrheit der Mitglieder dieser Gesellschaft über ein grundlegendes Bewusstsein der Pflichten eines Bürgers und über hohe moralische Standards."
Dr. Li: "Es gibt durchaus Kriterien, die eine solche Bewertung zulassen. Als wichtiger Index für ein modernes Land gilt, dass der Beruf des Bauern nicht automatisch mit Armut verbunden wird. Tatsache ist jedoch, dass in China zwischen Stadt und Land eine große Einkommenskluft existiert. Auf dem Land lebt in China heute nach internationalem Standard noch immer die Mehrheit der Geringverdiener und der armen Bevölkerung. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit der Armutsbekämpfung und des Aufbaus eines sozialen Netzes für die Landbevölkerung. Dringend erforderlich ist auch eine ausgeglichene regionale Entwicklung. Momentan wird die Kluft zwischen armen und reichen Regionen immer größer. Neue Entwicklungsmuster zum Einhalt dieser Tendenz sind gefragt. Das können beispielsweise die Entwicklung Westchinas, der Neuaufbau der nordöstlichen Industrieregion, die Revitalisierung Zentralchinas oder die beschleunigte Entwicklung der Küstenregionen sein. Auch zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten muss Harmonie herrschen. Die Kluft zwischen arm und reich hat sich in den letzen zehn Jahren noch weiter verstärkt und zu einer Verschärfung des Interessenkonfliktes geführt.. Die Regierung muss daher den Aspekten Arm-Reich, Arbeiter-Management und Staat-Bevölkerung erhöhte Aufmerksamkeit schenken. Daneben muss die Regierung ökonomische Steuermechanismen, wie Finanzen, Steuern und Wohlstand nutzen, um die Wohlstandsverteilung zu koordinieren, den Mittelstand auszuweiten und die Gruppe der Geringverdiener zu verkleinern. Die Gesellschaft braucht eine ausgeglichene Wirtschaftsstruktur. Die Bauern stellen 49 Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas, was den Übergang zu einer modernen Gesellschaftsstruktur behindert. In den nächsten 15 Jahren werden etwa 100 Millionen überschüssige Arbeitskräfte vom Land in die Städte ziehen. Daraus ergeben sich Herausforderungen bei der Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Ziel ist die Verwandlung Chinas von einem bevölkerungsreichen Land in ein Land mit vielen Arbeitskräften. Erst dann kann man von einer harmonischen Bevölkerungsstruktur sprechen. Chinas Familienplanungspolitik in den letzten 30 Jahren ist ein solcher Erfolg, dass das reine Bevölkerungswachstum pro Jahr auf rund 8 Millionen zurückgegangen ist. Doch neues Kopfzerbrechen bereitet eine alternde Bevölkerung noch bevor sich das Land richtig entwickelt hat. Die Regierung sollte den Aufbau eines stabilen sozialen Netzes beschleunigen und das Werteverständnis zwischen den Generationen verbessern. Zu den weiteren Maßstäben, die es zu beobachten gilt, zählen die Harmonie zwischen Mensch und Umwelt, das Aufrechterhalten der politischen Stabilität mittels Verbesserung des sozialistisch-demokratischen Systems, die Bekämpfung der Korruption und die Aufwertung des Managements. China muss auch eine Verbesserung der internationalen Beziehungen anstreben, um ein gutes Klima für seine langfristige Entwicklung garantieren zu können."
Dr. Li: "Die Regierung hat in dieser Hinsicht bereits eine Menge geleistet. Dringend anstehende Aufgaben sind auf alle Fälle eine ausgewogene Verteilung des Einkommens, die Verbesserung des sozialen Netzes, der verbesserte Umgang mit sozialen Konflikten, die Schaffung neuer Jobs, der Schutz der sozialen Gerechtigkeit und der Aufbau eines Systems für Krisenmanagement. Außerdem ist die Verbesserung der Staatsführung mit besseren Beziehungen zu Wirtschaft und Gesellschaft von zentraler Bedeutung." China.org.cn: "Ein Sprichwort sagt, man kann es allen Leuten eine gewisse Zeit recht machen und gewissen Leuten immer, aber man kann es nicht allen Leuten immer recht machen. Sieht die Regierung die Notwendigkeit bei ihrer Planung und Entscheidungsfindung flexibler sein zu müssen?" Dr. Li: "Die Zeit hat gelehrt, dass es die Reformen, die allen zum Vorteil reicht, nicht gibt. Nach wie vor ist es jedoch für die Gesellschaft wichtig, auf eine Institution bauen zu können, die den benachteiligten und unterrepräsentierten Gruppen in ihr unter die Arme greift." (Li Peilin wurde 1955 in der Provinz Shandong geboren und promovierte 1987 an der Sorbonne in Paris. Derzeit ist er als stellvertretender Direktor am Institut für Soziologie der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften tätig.) (China.org.cn, 15. März 2005)
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