Altbundeskanzler Schröder: Große Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam meistern

17.11.2020

von Jeffrey Möller und Zhang Liou


Die chinesisch-deutschen Beziehungen lagen dem ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder während seiner Regierungszeit besonders am Herzen. Auch im politischen Ruhestand hält Schröder dieses Engagement aufrecht. Im Gespräch mit People’s Daily Online äußert sich der Bundeskanzler a.D. über die zunehmenden Herausforderungen der bilateralen Beziehungen und wagt einen Ausblick auf Deutschlands „Post-Merkel-Ära“.


Die Beziehungen zu China standen bei Altbundeskanzler Schröder schon immer weit oben auf der Prioritätenliste. Insgesamt sechsmal besuchte Schröder während seiner Amtszeit zwischen 1998 und 2005 die Volksrepublik.


Die Verbindung zu China ist geblieben. Schröder ist nach wie vor regelmäßiger Gast im Reich der Mitte und verfolgt aufmerksam die Entwicklungen in der deutschen und europäischen Chinapolitik. Ängste vor einer zunehmenden politischen Macht Chinas hält er dabei für übertrieben und appelliert daran, das Augenmerk auf neue Chancen der Zusammenarbeit zu richten.


Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder (Quelle: Büro Schröder)


People’s Daily Online: Mitte September hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur „Lage der Union“ erklärt, dass die Beziehung zu China eine der strategisch wichtigsten und gleichzeitig eine der schwierigsten sei. China sei für die EU ein Verhandlungspartner, ein wirtschaftlicher Konkurrent und ein systemischer Rivale. Im selben Monat hat Deutschland auch neue Indo-Pazifik-Leitlinien beschlossen, wonach die Bundesrepublik die Zusammenarbeit mit Japan, Indien, Australien und den ASEAN-Staaten verstärken werde. China entwickelt sich von einem der größten strategischen Partner Deutschlands zu einem politischen Gegner und Konkurrenten. Was halten Sie von der neuen strategischen Positionierung der EU und Deutschlands gegenüber China? Stehen die Beziehungen zwischen China und der EU sowie zwischen China und Deutschland an einem Wendepunkt?


Wir erleben schnelle und sehr große Veränderungen in der internationalen Politik und sehen, dass multilateralen Prinzipien an Bedeutung verlieren. Ich bedauere das, weil ich davon überzeugt bin, dass wir gerade in der gegenwärtigen Lage mehr Kooperation anstelle von Konfrontation brauchen. Wir können die großen Herausforderungen, wie etwa die Folgen der Covid-19-Pandemie oder den Klimawandel nur gemeinsam meistern. Die USA haben sich für einen sehr konfrontativen Kurs gegenüber China entschieden, der auch bleiben wird unabhängig davon, wer amerikanischer Präsident ist. Mein Rat an die deutsche und die europäische Politik ist, dass sie sich in diesen Konflikt nicht hineinziehen lassen sollten. Über Jahrzehnte haben wir eine Partnerschaft, die wir strategisch nennen, mit China gepflegt. Nun spüren wir, dass China seine Potenziale in politische Macht umsetzt. Das ist eigentlich eine wenig überraschende Entwicklung. Sie ängstigt viele im politischen Westen, obwohl in dieser Entwicklung auch viele Chancen liegen.


Wie können China und Deutschland sowie China und Europa angesichts der Pandemie die Zusammenarbeit weiter stärken und die wirtschaftliche Erholung gemeinsam fördern? Welche Bedeutung hat das geplante Investitionsabkommen zwischen China und der EU?


Das hat einen sehr großen Wert, und beide Seiten sollten auch zu einer Übereinkunft kommen. Europa und China haben in den vergangenen vier Jahrzehnten eine sehr erfolgreiche wirtschaftliche Partnerschaft aufgebaut. Natürlich gibt es in einem solchen Verhältnis immer auch gegenseitige Forderungen und Wünsche. Die beziehen sich für Deutschland und die Europäische Union insbesondere auf die Verhinderung von Dumping, Rechtssicherheit für Investitionen, faire Marktzugänge und den Schutz des geistigen Eigentums. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo deutlich wird, dass sich das chinesisch-amerikanische Verhältnis nicht positiv entwickelt, muss Europa Interesse daran haben, noch enger und entschiedener mit China zusammen zu arbeiten, denn China ist für uns ein unglaublich wichtiger Markt. Das sehen wir gerade aktuell. Die deutsche Industrie profitiert von der schnellen wirtschaftlichen Erholung in China. Umgekehrt ist es interessant zu sehen, in welchem Maß sich chinesische Investoren in Deutschland engagieren, vor allem im Mittelstand. Ich finde es begrüßenswert, dass es zwischen den beiden Ländern nicht nur Warenaustausch gibt, sondern auch Kapitalbeteiligungen. Man sollte keine Angst vor chinesischen Investoren haben. Im Gegenteil, sie sind hilfreich. Natürlich sollte man bei Investitionen in die Infrastruktur auch immer die Sicherheitsaspekte im Auge behalten, aber auch keine unüberwindbaren Hürden aufbauen. Mein Eindruck ist, dass die deutsche Regierung bei der Frage der Verwendung von 5G-Technologie aus China eine vernünftige Abwägung getroffen hat.


Bundeskanzlerin Angela Merkel wird bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr nicht mehr antreten. Der britische Guardian spricht von dem Ende einer politischen Ära. Für Europa werde dies zum „gefährlichsten Moment seit dem Zweiten Weltkrieg“. Wie stehen Sie dazu? Zudem hat Merkel auch den Beziehungen zu China große Bedeutung beigemessen. Denken Sie, dass sich die deutsche China-Politik in der „Post-Merkel-Ära“ verändern wird?


Der Übergang zu einem neuen Bundeskanzler wird sicherlich nicht der gefährlichste Augenblick seit dem 2. Weltkrieg, also das ist maßlos übertrieben. Ich bin sicher, dass der Übergang zu einem neuen Regierungschef, so wie früher auch, problemlos vollzogen wird. Auch befürchte ich keine Brüche in der deutschen Außenpolitik, unabhängig davon, wie die neue Regierung zusammengesetzt sein wird. Die guten Beziehungen mit China haben in der Bundesrepublik Deutschland Tradition. Ich gehe fest davon aus, dass ein neuer Bundeskanzler dies ebenso handhaben wird.


Deutschland steht aktuell vor vielen Herausforderungen wie einem zunehmenden Populismus, der zweiten Welle der Pandemie und dem Brexit. Worauf kommt es besonders an, um weiterhin die soziale Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung aufrechtzuerhalten? Wird sich die Rolle Deutschlands in der EU ändern?


Wirtschaftlich ist Deutschland bisher gut durch die Pandemie gekommen. Mit den verschiedenen Konjunkturprogrammen wird der hoffentlich zeitlich nicht so lange anhaltende Ausfall an privater Nachfrage durch staatliche Nachfrage, die kreditfinanziert ist, teilweise ersetzt. Das ist in der aktuellen Lage notwendig. Und wir sind in Deutschland in der Lage dies zu finanzieren. Allerdings sollten wir uns in Deutschland bereits heute Gedanken darüber machen, was den zeitlich befristeten konjunkturellen Maßnahmen folgen soll. Wir brauchen ein Zukunftsprogramm, um die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und unseren Platz als viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zu sichern. Das hat auch einen europäischen Aspekt, denn Deutschland hat seit seiner Wiedervereinigung im Jahr 1990 innerhalb der Europäischen Union kontinuierlich an ökonomischer und damit verbunden politischer Macht gewonnen. Wir haben zusammen mit Frankreich eine Führungsrolle innerhalb der EU, und es wird auch zu Recht erwartet, dass wir diese Rolle ausfüllen. Für mich bedeutet das, dass sich Deutschland noch stärker als bisher für einen weiteren Ausbau der Europäischen Union einsetzen sollte. Es geht darum, unabhängiger von den USA zu werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der digitalen Technologien und für die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.


In diesem Jahr wird China den 13. Fünfjahresplan vollenden und eine moderat wohlhabende Gesellschaft auf allen Ebenen realisieren. Wie würden Sie Chinas Entwicklungserfolge in den letzten fünf Jahren bewerten? Welche wirtschaftliche, soziale, wissenschaftliche und technologische Entwicklung prognostizieren sie für China in den kommenden fünf Jahren, während des Zeitraums des 14. Fünfjahresplans?


Die Öffnungspolitik, die in den letzten fast 40 Jahren durchgeführt wurde, hat Chinas Rolle in der Welt verändert. China ist, was die Größe der Bevölkerung und die Wirtschaftsentwicklung angeht und weiter angehen wird, einfach zu wichtig, als dass es nicht eine angemessene Rolle in der Welt spielen müsste. Dieser Prozess dieses wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen, dessen bin ich mir sicher. Es wird darum gehen, dass wir in den internationalen Beziehungen zu einem multilateralen Ansatz zurückfinden und gemeinsame Lösungen für die großen internationalen Herausforderungen finden. Mit einem Zuwachs an Macht geht zugleich auch eine höhere Verantwortung einher. Das ist auch meine Erwartung an die chinesische Politik.


Sie haben China zahlreiche Besuche abgestattet und dabei auch mehrere Regionen bereist, sowohl in Ihrer Amtszeit als niedersächsischer Ministerpräsident als auch später als Bundeskanzler. Welche Eindrücke und Erlebnisse sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? In welchem Rahmen beteiligen Sie sich auch weiterhin an der Förderung der chinesisch-deutschen Zusammenarbeit?


Als Ministerpräsident von Niedersachsen war ich bereits Mitte der 1990er Jahre zum ersten Mal in China. Bis auf wenige große Städte wie Beijing und Shanghai, das spürte man auch, war China tatsächlich noch ein Entwicklungsland. Diese Situation hat sich dann mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert. Wir haben im Jahr 2001 den Beitritt Chinas zur WTO sehr unterstützt. Und im Jahr 2004 habe ich die Strategische Partnerschaft zwischen unseren beiden Staaten begründet, die einen Ausbau der Beziehungen in allen Bereichen vorsah. Eine andere wichtige Entscheidung war der Rechtsstaats-Dialog, den wir im Jahr 2000 zwischen unseren beiden Ländern eingerichtet haben. Es geht dabei um eine Zusammenarbeit im Rechtsbereich und einen Dialog über den Aufbau des Rechtsstaats. Meine Verbindung zu China ist geblieben. Ich versuche, ein bis zweimal im Jahr nach China zu reisen, um mir selbst ein Bild von den Veränderungen im Land zu machen und Gespräche mit Unternehmern, Politikern und Wissenschaftlern zu führen. Zudem bin ich Mitglied des International Advisory Council der China Investment Corporation, um das Land bei der Transformation hin zu einer Marktwirtschaft zu beraten. Ich halte es für wichtig, dass wir den Dialog zwischen unseren beiden Ländern intensivieren. Und das betrifft nicht nur die politische Ebene, sondern vor allem die Zivilgesellschaft. Auch deswegen müssen wir diese Pandemie schnellstmöglich überwinden, damit ein Austausch und das Reisen wieder möglich sein werden. Diesen Kampf gegen das Corona-Virus können wir nur gemeinsam gewinnen. 

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Quelle: People.cn

Schlagworte: Schröder,Post-Merkel-Ära,Zusammenarbeit,Populismus,Pandemie