China in zweitausend deutschen Worten

15.06.2022

Ich habe einmal auf Chinesisch einen Satz gesagt, den ich nie besonders erklärt habe. Sinngemäß lautet er: Wenn es China nicht gäbe, gäbe es mich auch nicht. Was wollte ich damit sagen? Jeder Mensch steht im Wandel der Zeit. Er kann mit den Zeitläuften gehen oder sich gegen diese stellen. Ich bin immer meinen eigenen Weg gegangen und habe mich dabei auf mein Gefühl verlassen. Auf ein Gefühl und nicht auf die Vernunft? Ach, beides sind leidige Geschäfte, die nur zusammen zum Ziel führen, zu dem Ziel einer Selbstfindung. 

 

Als ich mit zwanzig Jahren in Rheine das Abitur machte und anschließend die Universität Münster besuchte, wußte ich nicht so richtig, was mich erwartete. 1966 studierten nur 5% der deutschen Bevölkerung, und wer studierte, war mehr oder minder frei in seinem Unterfangen. Man war mehr oder minder sein eigener Herr und bestimmte selber, was man machte. Man wechselte die Universitäten, die Fächer und die Lehrer nach Gutdünken. So studierte auch ich wie aus einem Jungbrunnen aufgetaucht alles Mögliche, zuerst Theologie, dann Germanistik, schließlich Philosophie und zu guter Letzt Japanologie. 

  

Stetiger Austausch: Wolfgang Kubin im Gespräch mit Studierenden der Universität Bonn 

 

Doch bei all dem hatte ich mich immer noch nicht gefunden. Zwei bis drei Jahre waren fast vergangen, ohne daß ich ein klares Ziel vor Augen hatte. Was wollte ich eigentlich? Mein Herz gehörte der Literatur, ich selber schrieb bereits seit langem Gedichte. Unter den jungen Poeten, die ich kennenlernte, war einer, der sich mit dem amerikanischen Dichter Ezra Pound (1885-1972) befasste und mich auf dessen Nachdichtungen chinesischer Lyrik aufmerksam machte. So stieß ich zufällig auf Li Bai (701-762). So nahm mein Leben plötzlich eine ungewöhnliche Wende. Ich wollte den Chinesen im Original lesen. Es traf sich, dass an der Universität Münster ein Lehrstuhl für Sinologie mit neuen Dozenten aus Leipzig bzw. aus Freiburg eingerichtet worden war. Einer von ihnen war Hans Stumpfeldt (1941-2018), der später Professor in Hamburg werden sollte.  

 

So begann ich, mit zwei katholischen Theologen klassisches Chinesisch zu büffeln. Und so hatte ich mit einem Mal erlangt, wonach ich unbewusst gesucht hatte: den Menschen. Was heißt das? Im alten chinesischen Denken steht nicht ein Gott im Mittelpunkt, sondern etwas, was mit ren 人 umschrieben wurde. Wir übersetzten dieses Zeichen mit „Mensch“, was aus heutiger Sicht nicht ganz richtig ist. Zunächst: Natürlich kommen in den klassischen Schriften des alten China Worte vor, die sich je nach Auffassung mit „Geist“ oder „Gespenst“ oder mit „Fee“ wiedergeben lassen, aber der Schwerpunkt scheint nicht auf dem Übernatürlichen zu liegen. Wo dann? Wir meinten damals: auf dem Menschen. Welchem Menschen? 

 

Wo sehe ich heute das Problem unseres seinerzeitigen Verständnisses? Besagtes Zeichen verweist zur Zhou-Zeit (1046-221 v. Chr.) auf den Mann und nicht auf die Frau, und da insbesondere auf den Aristokraten bzw. auf den Herrscher. Das ändert sich zwar im chinesischen Mittelalter (220-960), doch erst ab der Song-Zeit (960-1279) wird mit dem neuen Beamtensystem der Mensch als Mensch in das Zentrum der Philosophie gerückt. Wie dem auch sei, ich entdeckte für mich bei der Lektüre von Meng Zi (372-289 v. Chr.) die Frage nach dem menschlichen Wesen. Ich war begeistert, und dieser Enthusiasmus hat bis heute angehalten. So entstand u.a. bei dem alteingesessenen Herder Verlag meine Reihe der zehn klassischen chinesischen Denker. 

 

Was aber sagte meine Umwelt zu meiner Entscheidung, die chinesische Sprache und Kultur zu meinem Hauptfach zu machen? Sie reagierte mit Unverständnis. Du wirst nie eine Arbeit finden, hieß es, du wirst immer Hunger leiden. Man hielt mich für einen Idioten. Ich aber wollte etwas anderes machen, etwas, das mir Spaß machte. Ich wollte kein herkömmliches Studium betreiben und vielleicht als Studienrat an einem Gymnasium enden. Meine Entscheidung habe ich nie bereut, denn die Zeiten änderten sich, ohne dass ich dies ahnen konnte. Wenn ich jetzt auf ein erfülltes Leben zurückblicke, dann habe ich das begeisternden Lehrern und  herzergreifenden Gegenständen der Sinologie zu verdanken, vor allem Lehrenden der chinesischen Literatur. 

 

Mein Weg führte mich bald von Münster nach Japan. Warum nicht nach China? Es gab keine diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Peking. Diese wurden erst 1972 aufgenommen. Was wollte ich in Japan? Die Tang-Zeit (618-907) suchen. Li Bai gab den Ausschlag, so dass das erste Jahrtausend nach Christus mein Interesse lockte. Kyoto ist bekanntlich im Stil chinesischer Architektur erbaut. Ich fand also dort die Gärten, Tempel und Paläste, die von Chang’an, dem heutigen Xi’an aus eingewandert zu sein schienen.  

 

Nach meiner Rückkehr aus dem „alten“ Japan, aus dem viel älteren China wechselte ich die Universität: In Bochum fand ich einen Fachmann für chinesische Dichter wie Li Bai und für die moderne chinesische Hochsprache. Der Unterricht wurde zu einem Fest für wenige „Auserwählte“. Als sich die Tore von Peking öffneten, bereitete ich meine Reise auch mit Hilfe von „China Reconstructs“ vor.  Es fehlte Anfang der 70er Jahre an Informationen in deutschen Landen. So griff ich gern auf Materialien zurück, welche die chinesische Seite zur Verfügung stellte. 

 

Mit welchen Erwartungen bin ich vor bald fünfzig Jahren nach Peking gereist und mit welchen Augen bin ich ein Jahr lang durch die Hauptstadt gelaufen? Die Tage sahen fast immer gleich aus.  Vormittags lernte ich am „Spracheninstitut“, am heutigen Beiyu (Beijing Yuyan Daxue) die tägliche Umgangssprache und nachmittags fuhr ich mit dem Fahrrad spazieren. Was mich im Winter begeisterte, war die hohe lichte Sonne. Der Himmel schenkte sich überwiegend blau, die Strahlen machten die große Kälte erträglich. Mein Lieblingsort ist leicht zu erraten: der so genannte neue Sommerpalast (Yihe Yuan), aber wie begegnete ich ihm? Meine ästhetische Sicht hatte ich aus Japan mitgebracht, diese war die der Tang-Zeit. Auch wenn Peking zur Ming-Zeit (1368-1644) erbaut worden war, bewegte ich mich unter den alten Gemäuern der Verbotenen Stadt, als lebte ich da bereits seit mehr tausend Jahren. Ich kannte das neue China ja gar nicht, und selbst die letzten drei kaiserlichen Dynastien waren mir nicht besonders vertraut. Ich war jung bereits ein alter Chinese.

 

Wolfgang Kubin arbeitete acht Jahre lang als Seniorprofessor an der Beijing Foreign Study University (BFSU). Unser Bild zeigt ihn bei einem Vortrag vor Studierenden der Universität. 


Ich verbrachte also meine zwölf Monate im China der Erwartung wie ein Dichter zur Tang-Zeit. Am liebsten schaute ich mit Freunden den Sonnenuntergang über den Westbergen. Als die Temperaturen wärmer einkehrten, lagerten wir an dem Pavillon der Frühlingsahnung und schauten über den Kunming-See. Wir hatten Brot, Käse und Bier dabei, manchmal auch Rotwein. So ließ es sich gut leben. Jeder Besuch kam einem Gastmahl gleich. Blieb mir auf diese Weise das moderne China fremd? Nein, nicht unbedingt. Wir hatten das Glück, auf superbe Lehrer getroffen zu sein. Sie führten uns geduldig in die neue Geschichte und gegenwärtige Kultur Chinas ein. So kam ich zum ersten Mal mit der chinesischen Literatur des 20. Jahrhunderts in Berührung. Vor allem die Lektüre und die Deutung von Lu Xun (1881-1936) haben mich wesentlich verändert. Ansonsten übersetzte ich vor Ort die Gedichte und Lieder von Mao Zedong neu.  

 

Ich wäre gern ein Jahr länger in Peking geblieben wie andere, jedoch riefen mich familiäre und berufliche Umstände nach Münster zurück. Mein erstes Kind war vor der Ausreise geboren, und Prof. Dr. Alfred Hoffmann kränkelte kurz vor seiner Emeritierung. Ich sollte seinen Unterricht übernehmen. So hatte ich also Arbeit gefunden, ehe ich wieder daheim war. Meine Aufgabe bestand an der Ruhr in der Lehre des modernen Chinesisch. Da ich dieser gern nachkam, war ein Lektorat für Chinesisch an einer Universität mein ursprüngliches Lebensziel. Es ließ sich leider nicht realisieren. So hatte ich weiterzuziehen: von der Ruhr-Universität Bochum an die Freie Universität Berlin. Im ersten Fall gering vergütet, erwarteten mich an der Spree ein richtiges Gehalt und ein fester Wohnsitz. Berlin kam mir entgegen: Ich durfte mich habilitieren (zur chinesischen Naturanschauung), ich konnte u.a. Lu Xun, Ba Jin, Mao Dun publizieren, die chinesischen Schriftsteller kamen, u.a. Wang Meng, Bei Dao, Gu Cheng, Shu Ting, Zhai Yongming. 

 

Berlin war und ist eine offene Stadt, bereit für alles Fremde, so hatte ich im Juni 1985 die Gelegenheit, fünfzehn chinesische Schriftsteller zu den dortigen Festspielen einzuladen. Darunter u.a. Zhang Jie, Zhang Kangkang, Fu Tianlin, Bai Xianyong. Meine Studenten und ich übertrugen. Wir wurden über Nacht zu Übersetzern und Dolmetschern der Gegenwartsliteratur aus China. Es war wie ein Rausch. Ich konnte dergleichen einmal in Bonn wiederholen. Eine Delegation von zehn Autoren kam an den Rhein für eine Woche chinesischer Literatur: u.a. Mo Yan, Wang Anyi, Zhang Chengzhi. Die Hörsäle der Universität waren brechend voll. Wir erlebten ein noch größeres Fest als in Berlin! Alles wollte und mochte die neueste Literatur aus dem „Reich der Mitte“. Und dann?  

 

Ach, dann hatte ich längst Berlin verlassen und war Professor für Chinesisch an dem uralten Seminar für Orientalische Sprachen über dem Rhein geworden. Ich hätte an der Freien Universität Hochschullehrer werden können, aber nur für eine gewisse Zeit. Die Universität Bonn bot dagegen eine Lebensstellung und ließ mich auch nicht mehr gehen. So hatte ich ein Heim für eine Pekingerin und für zwei gemeinsame Söhne mit ihr zu bieten. Wir leben heute am Ende des Siebengebirges in einem eigenen Haus. Unsere vielen Bücher bedürfen einer geziemenden Unterkunft, sie verweigerten sonst ihren Dienst. Und was ist mit den zahlreichen reißenden Bächen und mit all den übermütigen Singvögeln im Umkreis? Sie bieten mir eine Welt des Tao Yuanming. Wir leben in Holzlar verborgen hinter Zäunchen und Bäumchen. Kinder spielen überall, auch chinesische. Man fährt Rad, wir brauchen kein Auto. Seltene Blumen blühen wild in den Straßen, von dem Volk launisch gepflanzt. 

 

Was wurde aber aus all den eifrigen Literaturübersetzern der 80er Jahre? Ach, sie wanderten ab, als China reich und mächtig wurde. Sie wollten Geld verdienen oder sich politisch betätigen. Nur wenige vermochte das viele Geld nicht zu locken. Ich konnte daher noch mit meinen besten Studenten meine Lu Xun-Ausgabe 1994 in sechs, sieben Bänden herausbringen, sie verkauft sich bis heute. Ich war auch in der Lage, nach gut dreißig Jahren meine Geschichte der chinesischen Literatur in zehn Einzelwerken zu vollenden. Doch schon zuvor hatte ich entschieden, nun für China und mich nur noch als Einzelkämpfer tätig zu sein. Kollegen erwiesen sich als unzuverlässig, sie sprangen von Projekten ab und ließen mich ihre Bücher schreiben, kassierten aber vorher Ruhm und Gelder ein. 


In seiner Freizeit treibt Wolfgang Kubin gern Sport. Unser Foto zeigt ihn unterwegs mit dem Velo. 

 

Seit meiner Emeritierung schreibe und übersetze ich nur noch allein. Emeritierung? Formal ja, an der Universität Bonn. Doch ich unterrichte und promoviere weiterhin chinesische Studentinnen, denn ich bin Professor auf Lebenszeit. Nach acht Jahren als Senior Professor am Beiwai (Beijing Foreign Studies University) lehre ich heute zusätzlich an der Universität Shantou in derselben Position. Wegen Corona manchmal im Internet von Bonn aus, trotz Corona manchmal vor Ort unter den Bergen.  

 

Ob Peking oder Shantou, ob Qingdao oder Ji’nan, wo ich ebenfalls lange gelehrt habe, sie alle waren Orte meiner Lyrik, meiner Essayistik, meiner Erzählungen, nicht nur meiner Wissenschaft oder Übersetzung. 

 

Woran denke ich heute, momentan in Bonn – kein Flugzeug oder zu teuer –, wenn ich an Peking denke? An den Tempel des Schlafenden Buddha unter den Duftenden Bergen. Ich habe viel dort geweilt und viel dort über ihn geschrieben. Und sonst? Denke ich an Erguotou, meinen Herzensschnaps, an Huashengmi (eine Schale mit Erdnüssen), an Jiaozi (Maultaschen mit Knoblauch, Ingwer, Chili und Sojasoße). Und im Falle von Shantou? An das brasilianische Fußballspiel mit den Dozenten und Studenten, an Bülbül, die nicht müde werden durch den riesigen Park zu fliegen und mich bei meiner Lektüre unter den Bäumen sowie an den Seen zu begleiten, an Pingguo guniang, die immer mit einem Apfel in den Unterricht kommt, an Beiguo guniang, die sich gern mit ihren Kommilitoninnen ins vorzügliche Restaurant namens „Beiguo“ (Nördliche Lande) einladen lässt. Kann das Leben mehr Sehnsucht als in China sein, als in China zu sein? 

 

Als ich letztens durch die Duftenden Berge von Peking streifte, befiel mich Wehmut. Vor fünfzig Jahren fuhr ich mit dem Rad dorthin, heute steigt man dort aus der U-Bahn aus. Die roten Blätter finden Herbstens so mühelos ihr reiches Personal. Ich habe sie selbst nie gesehen. Nur im Traum kann ich sie erreichen. Wie in einem chinesischen Gemälde, welches ganz Traum ist und Schlaf, Schlaf der Ewigkeit. Das ewige China eine Mär der „Orientalisten“? Weit gefehlt! Der Schlafende Buddha würde protestieren! Wie recht er hat! Darum bedarf er meiner, um zu uns zu sprechen, so wie er einst zum Qianlong-Kaiser gesprochen hat. Dessen absichtlich falsch geschriebenes Zeichen hängt im Tempel noch an der Wand! Zum Erstaunen der Besucher. Wer sind wir, fragen wir demütig uns. 

 

*Wolfgang Kubin ist emeritierter Professor für Sinologie in Bonn sowie Übersetzer und Schriftsteller. Er hat mehrere Jahre als Seniorprofessor deutsche und chinesische Geistesgeschichte in Peking und Shantou gelehrt.

Diesen Artikel DruckenMerkenSendenFeedback

Quelle: China Heute

Schlagworte: China,deutsch,Chinesisch,Wolfgang Kubin