Das Erbe des „guten Deutschen von Nanking“
Thomas Rabe: Wie vier Generationen die Freundschaft zu China leben Exklusiv
von Ren Bin, Beijing
John Rabe, bekannt als „der gute Deutsche von Nanking“, rettete 1937 mehr als 200.000 Chinesinnen und Chinesen vor den vorrückenden japanischen Truppen. In China gilt der ehemalige Siemens-Manager deshalb bis heute als Held. Auch sein Enkel, Professor emeritus Thomas Rabe, zuvor Gynäkologe an der Universitätsklinik Heidelberg und Träger des chinesischen Freundschaftspreises, ist in der Volksrepublik kein Unbekannter. Seit vielen Jahren engagiert er sich für den medizinischen und kulturellen Austausch zwischen China und Deutschland. Kürzlich erhielt er dafür den „Friendly Envoys Award“ im Rahmen der Verleihung des Zweiten Orchideen-Preises. Im Vorfeld der 80. Gedenkfeier zum Sieg Chinas im antifaschistischen Krieg sprach China.org.cn mit dem 74-Jährigen.

China.org.cn: Herr Professor, Sie haben gerade den „Friendly Envoys Award“ im Rahmen der Verleihung des Zweiten Orchideen-Preises der China International Communications Group (CICG) erhalten. Dieser Preis wird an ausländische Personen verliehen, die eine bedeutende Rolle bei der Förderung der Beziehungen zwischen China und anderen Nationen gespielt haben. Ich gratuliere Ihnen!
Thomas Rabe: Danke. Die Auszeichnung mit dem Orchideen-Preis ist für mich und meine Familie eine große Ehre. Ich glaube, sie würdigt nicht nur meine intensive Zusammenarbeit mit China in den letzten 20 Jahren, sondern auch 117 Jahre Verbundenheit der Familie Rabe — über vier Generationen hinweg — mit China.
Sie sind ja bereits seit 2018 Träger des Freundschaftspreises der chinesischen Regierung. Während Ihrer langjährigen Zusammenarbeit und des Austausches mit der chinesischen Seite haben Sie und Ihre Familie sicherlich viele freundschaftliche Begegnungen erlebt. Welche davon sind für Sie besonders erwähnenswert?
Ja, es gibt zahlreiche Begegnungen. Oder anders gesagt: Es gibt viele chinesische Freundinnen und Freunde sowie Institutionen, ohne die unsere gemeinsamen Projekte — sowohl im medizinischen Bereich als auch im humanitären Bereich — nicht so erfolgreich wären.
An dieser Stelle möchte ich zuerst Professorin Ruan Xiangyan vom Beijing Obstetrics and Gynecology Hospital der Capital Medical University und Frau Professorin Liang Yi von der Beijing Union University meinen Dank aussprechen. Gemeinsam mit ihnen haben wir medizinische und historische Buchprojekte realisiert, ein sechstes John-Rabe-Kommunikationszentrum aufgebaut und auf zahlreichen Konferenzen die historische Wahrheit aber auch medizinische Innovationen diskutiert.
Auch meinem Freund Herrn Yang Shanyou, dem Direktor des John-Rabe-Hauses in Nanjing, muss ich danken. Unsere wissenschaftliche Zusammenarbeit zur Rolle meines Großvaters während des Nanjing-Massakers und die entsprechende Darstellung im John-Rabe-Haus sind mir sehr wichtig.

Der ehemalige chinesische Botschafter Wu Ken (Mitte) und seine Frau (1.v.r.) besuchen das John-Rabe-Zentrum in Heidelberg. (Foto vom 14. März 2023, mit freundlicher Genehmigung von Thomas Rabe)
Mein besonderer Dank gilt außerdem dem früheren chinesischen Botschafter in Berlin, Herrn Wu Ken. Während der Corona-Zeit hat er unserer Familie und unserem Kommunikationszentrum in Heidelberg sehr geholfen. Durch seine Kontakte sind Medikamente, Atemschutzmasken, Schutzkittel und Desinfektionsmittel aus Nanjing nach Heidelberg gekommen. Das werden wir nie vergessen.
Worum genau geht es bei den Kooperationen im medizinischen Bereich? Welche konkreten Erfolge konnten erzielt werden?
Die Zusammenarbeit mit Professorin Ruan Xiangyan besteht inzwischen zwölf Jahre. Gemeinsam mit ihrem Team habe ich vier aktuelle Lehrbücher in der chinesischen Sprache erarbeitet. Bei meinen Aufenthalten in China versorgten wir in der Ambulanz gemeinsam komplexe Fälle. Zusammen mit internationalen Expertinnen und Experten, insbesondere meinem Kollegen Professor Alfred Mueck, beriet ich die Klinik in Fragen der Infrastruktur und bei der Einführung neuer Behandlungsmethoden.

Alfred Mueck, Ruan Xiangyan und Thomas Rabe (v. l. n. r.) feiern den zweiten Geburtstag von Youyou, dem ersten Kind, das in China durch eingefrorenes Eizellgewebe geboren wurde, im Beijing Obstetrics and Gynecology Hospital. (Foto vom 6. September 2023, mit freundlicher Genehmigung von Ruan Xiangyan)
Wir planten und organisierten außerdem einen jährlichen Kongress zu gynäkologischer Endokrinologie, Menopause und Reproduktionsmedizin, auf dem ich regelmäßig als Referent auftrat. Und ganz persönlich: Professorin Ruan und ihr 25-köpfiges Ärzteteam haben mein Buch „Rabe und China“ innerhalb eines Jahres vom Englischen ins Chinesische übersetzt — dafür bin ich sehr dankbar; das war eine großartige Leistung!
Sie haben das Buch „Rabe und China“ erwähnt. Vorher ist ja schon das Tagebuch Ihres Großvaters erschienen. In welchen Punkten unterscheiden sich die thematischen Schwerpunkte dieser beiden Werke?
Das Buch von Dr. Erwin Wickert „John Rabe. Der gute Deutsche von Nanking“, das 1997 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erschien, ist die erste leicht verständliche Zusammenfassung der Nanjing-Tagebücher meines Großvaters. Die Tagebücher selbst bestehen aus zehn Bänden: Acht davon befassen sich mit den historischen Geschehnissen. Zwei Bände wurden später extra für die Familie als persönliche Zusammenfassung geschrieben.

Alle Bücher von John Rabe im Heidelberger John Rabe-Kommunikationszentrum. In der Mitte liegt das neue Buch von Thomas Rabe „Rabe und China“ (Foto mit freundlicher Genehmigung von Thomas Rabe)
Mein Großvater hat allerdings insgesamt 24 Bücher geschrieben, von denen leider drei im Krieg verloren gegangen sind. Die Manuskripte der 10-bändigen Nanjing-Tagebücher mit insgesamt ca. 2.000 Seiten sowie einige Erinnerungsstücke von ihm, darunter seine Jade-Medaille, die ihm die ehemalige chinesische Regierung 1938 verliehen hatte, habe ich 2016 und 2017 dem Zentralarchiv Chinas übergeben. Ich bin der Meinung, dass dieser Ort genau der richtige ist, um diese Dokumente dauerhaft aufzubewahren.
Die Arbeit an „Rabe und China“ begann vor etwa 15 Jahren. Ursprünglich wollte ich eine Biografie unter dem Titel „John Rabe“ zusammenstellen. Im Laufe der Arbeit fanden sich jedoch viele neue Texte und Bilddokumente, und das Projekt wuchs: Es sollte nun nicht mehr nur die Biografie meines Großvaters werden, sondern zugleich die mehr als hundertjährige Freundschaft unserer Familie mit China über vier Generationen darstellen. 2024 konnte ich das Buch schließlich unter dem Titel „Rabe und China“ beim Research Press der China Publishing Group veröffentlichen.
Das war ein langer Weg, das muss eine Menge Arbeit gewesen sein.
Ganz genau. Neben der historischen Recherche mussten wir umfangreiches Bildmaterial sichten und passende Abbildungen finden, die die Texte erläutern. Wie gesagt, hat das Team von Professorin Ruan bei der chinesischen Übersetzung sehr unterstützt, und Professorin Liang hat mir als Historikerin geholfen, Fakten und Namen korrekt herauszuarbeiten. Wir hatten darüber hinaus Herrn Zhang Ji, einen erfahrenen Übersetzer der „Chinesisch-Deutschen Freundschaftsgesellschaft“, gebeten, die chinesische Version mit dem deutschen Original zu vergleichen und redigieren. Allein der Publikationsprozess beim Verlag hat dann noch über drei Jahre in Anspruch genommen — das war eine sehr arbeitsintensive Phase.

Die Freundschaft zwischen Thomas Rabe (1. v. l.) und Liang Yi (1. v. r.) besteht seit über 20 Jahren. Das Foto zeigt die Professorin Liang und den ehemaligen Vize-Direktor der Gedenkhalle für den Widerstandskrieg des chinesischen Volkes gegen die japanische Aggression, Liu Jianye (Mitte), bei ihrem Besuch des John Rabe-Kommunikationszentrums in Heidelberg. (Foto vom 2. Mai 2006, mit freundlicher Genehmigung von Thomas Rabe)
Am Ende lohnt sich die Mühe: Das Buch ist mehr als ein Geschichtsbuch. Es ist ein Brückenschlag zwischen Kulturen, eine Mahnung an den Humanitätsgeist meines Großvaters und ein Plädoyer für Frieden. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, alle Einnahmen aus dem Buch und anderen Projekten für den Aufbau und wohltätige Zwecke der John Rabe-Kommunikationszentren zu spenden.
Da das Buch nun erschienen ist — bedeutet das, Sie können den Ruhestand genießen, oder stehen schon weitere Projekte an?
Die Buchprojekte sind noch nicht „fertig“ im weiten Sinne — wir haben noch viele Pläne. Zunächst sollen Übersetzungen folgen, angefangen mit einer englischen Ausgabe. Geplant sind außerdem E-Book-Versionen und ein Kinderbuch mit dem Arbeitstitel „Opa Rabe erzählt seine Geschichte für chinesische Kinder“. Es gibt auch erste Ideen für eine vierteilige Dokumentarserie — die Drehbuchentwürfe sind in Arbeit und liegen in deutscher, englischer und chinesischer Sprache bereits vor. Sie können vielleicht in Zusammenarbeit mit einem internationalen Videodienst realisiert werden.
Und noch eine gute Nachricht: Das neue John-Rabe-Kommunikationszentrum in Budapest ist in Planung — bislang gibt es sechs solcher Zentren weltweit. Die Räumlichkeiten sind bereits gefunden, und Vorgespräche in Heidelberg haben stattgefunden. Jetzt muss das Ganze noch mit Leben gefüllt werden.
Im medizinischen Bereich möchte ich mit Professorin Ruan eine „Virtuelle Akademie für Frauengesundheit“ aufbauen — kostenlos zugänglich, als Aus- und Weiterbildungsplattform, unterstützt durch moderne KI-Technologien. Außerdem habe ich der Frauenklinik den Forschungsschwerpunkt In-vitro-Gametogenese vorgeschlagen — eine Technik, mit der im Labor aus Körperzellen Eizellen oder Spermien entstehen können. Zudem wollen wir eine Abteilung für Reproduktionsgenetik einrichten.
Laut früheren Berichten hatte Ihr Sohn Maximilian geplant, für längere Zeit in China zu leben. Konnte dieses Vorhaben bereits umgesetzt werden?
Aufgrund seiner Tätigkeit in München kann er vermutlich erst in zwei bis drei Jahren für einen einjährigen Aufenthalt nach China kommen. Er ist aber sehr begeistert von der chinesischen Kultur und den Menschen vor Ort. Er hat über den DAAD ein Jahr Chinesisch gelernt und den Abschluss A1 erworben. Geplant ist, dass er eines Tages als Vertreter der vierten Generation die Leitung der internationalen John-Rabe-Kommunikationszentren übernimmt.
In diesem Jahr jährt sich der Sieg im chinesischen Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression sowie der Sieg im weltweiten antifaschistischen Kampf zum 80. Mal. Welchen Stellenwert messen Sie der historischen Reflexion dieses Krieges bei?
Die Welt braucht Frieden, und ich schließe mich dem Konzept einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ von Präsident Xi Jinping an.
Es ist sehr wichtig, sich an die Geschichte zu erinnern. Nazi-Deutschland hat den Holocaust begangen — ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das sich niemals wiederholen darf. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland mit seinen früheren Opfern Frieden geschlossen und Verantwortung übernommen — mit Israel, Frankreich, Polen und anderen. Leider haben aber nicht alle Länder aus der Vergangenheit gelernt.
Ich freue mich, dass ich zur Gedenkfeier am 3. September nach China eingeladen wurde. Der Besuch ist auch eine Gelegenheit, die humanitären Projekte mit unseren chinesischen Partnern fortzusetzen.
Was treibt Sie und Ihre Familie an, sich über Generationen hinweg für humanitäre Projekte zu engagieren?
Ich bin fest davon überzeugt: Man lässt einen Freund in Not nicht im Stich. Das hat mein Großvater immer gelehrt und vorgelebt. In seinem Tagebuch schrieb er am 26. Dezember 1937, sein schönstes Weihnachtsgeschenk sei es gewesen, 650 Menschen Zuflucht und Rettung gegeben zu haben. Er sagte: „Es ist nicht gut, nur an sich selbst zu denken. Es lohnt sich immer, anderen in Not zu helfen und für sie einzustehen.“ Das hat er gesagt und es hat ihn geleitet — und das wollen wir als seine Nachkommen fortführen. Wichtig ist, dass man seine Mitmenschen nicht mit Regeln, sondern mit seinem Vorbild motiviert.
Professor Rabe, vielen Dank für das Gespräch.










