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Deutschlands Bundeskanzler in China

Olaf Scholz setzt weiter auf Wirtschaftszusammenarbeit Exklusiv

german.china.org.cn  |  
17.04.2024

von Ole Döring, Changsha

„Eine Reise fast wie zu Merkels Zeiten“, so titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11. April über die zweite Reise von Olaf Scholz als Kanzler nach China. Dass es sich hierbei um eine belastete Analogie handelt, macht das Datum klar, bzw. was seit Merkels letzter Chinareise im September 2019 passiert ist: nicht nur Covid, auch die Auseinandersetzungen zwischen Russland und Ukraine und soeben iranische Bomben auf Israel. Zugleich entwickeln sich die Wirtschaftskräfte beider Partner gegenläufig, während sich China über BRICS und die Neue Seidenstraßeninitiative in eine Weltgemeinschaft verwebt, die ohne ideologische Altlasten des 20. Jahrhunderts auskommen will.

Es ist die Zeit, die deutsch-chinesischen Beziehungen neu auszutarieren und möglichst zu konsolidieren. Denn Deutschland und Europa stehen vor besonderen politischen Weichenstellungen, während in den USA die Mentalität des Kalten Krieges sich durchzusetzen scheint. Entsprechend viel Zeit nahm Scholz sich für den Weg, der Chinas Tore für Deutschland oder dessen Unternehmen auch in Zukunft offenhalten soll. Immerhin ist China Berlins größter Handelspartner. Als höflicher Gastgeber wies Xi Jinping darauf hin, China und Deutschland seien die zweit- beziehungsweise drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Damit erinnert er seinen Gast an die übergeordnete Verantwortung, um die es im Miteinander gehen muss. Wenn man den Ansatz der Multipolarität teile, gehe es im Wesentlichen um gegenseitigen Respekt und friedliche Koexistenz.

Auf seiner Website stellt das Bundeskanzleramt den Zusammenhang zur „Chinastrategie“ her, die seine Außenministerin vor einem Jahr beim Think Tank Merics der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Diese Reise stand unter dem Leitmotiv, „gemeinsam nachhaltig handeln“, also entschieden für eine Alternative zu den Abgrenzungsversuchen seines Koalitionspartners. Damit setzt der Pragmatiker Scholz in der Verpflichtung seines Amtes für die deutsche Nation einen Gegenpol zur amerikanisch inspirierten Diffamierungs- und Abkoppelungsrhetorik, die mittlerweile nur noch eingefleischte Statthalter Bidens in Europa vertreten, darunter eben auch Regierungsmitglieder. Scholz gebührt Respekt dafür, das Fähnlein der Realpolitik gegen die Stürme im Wasserglas deutscher Ideologie hochzuhalten und das in Normalität Mögliche auszuloten.

„Das Ziel der Reise ist es, im Austausch mit China zu bleiben. Sie widmet sich den drei großen Themenblöcken Wirtschaft und Handel, Schutz globaler Güter – mit Blick auf Nachhaltigkeit zur Bekämpfung des Klimawandels – sowie geopolitische Herausforderungen“, so das Kanzleramt. Diese drei Blöcke wurden schon mit der Zusammensetzung der Delegation auf Wirtschaft verengt. Die nach dem Ende der Covid-Eiszeit als Innovationsfelder brachliegenden Bereiche Kultur, Bildung, Tourismus bleiben Staffage – nicht, weil sie wirtschaftlich uninteressant sind, sondern weil sie für den Zeitgeist zu innovativ sind und zu Opfern grüner Rotstifte wurden. Damit wird der Raum für die Gestaltung multilateraler Zukunftsansätze ins Utopische verschoben.

Die Welt hat sich nicht zuletzt durch Chinas Aufstieg verändert – sicher nicht zum Schlechteren. Chinas Wohlstand und Globalisierung haben Räume für Gestaltung eröffnet, zugleich sind neue Herausforderungen entstanden, die nur gemeinsam zu bewältigen sind. Dabei profitiert der deutsche Mittelstand inzwischen von der zunehmenden Rechtsstaatlichkeit und Rationalisierung der öffentlichen Verwaltung ebenso wie vom uneinheitlichen Entwicklungsgrad chinesischer Regionen. Die in Deutschland ungeliebte Chemie-Industrie wird möglicherweise zum Vorreiter einer neuen Welle des Standortwechsels. Konkrete Probleme, wie bei der Rekrutierung, Fortbildung und Bindung betrieblicher Mitarbeiter kann man angehen, indem man das kulturelle und fachliche Wissen beider Seiten zusammenbringt.

Die Übereinstimmung in Fragen der internationalen Friedensstrategie wird in China erleichtert, im politischen Berlin eher mit Stirnrunzeln gesehen. So hatte Scholz vorab auf X verbreitet: „Bei meinem Treffen mit Präsident Xi wird es auch darum gehen, wie wir mehr zu einem gerechten Frieden in der Ukraine beitragen können“, nachdem es dazu „seit meinem letzten Besuch in China einen intensiven Austausch zwischen unseren Regierungen“ gegeben habe. Die Voraussetzungen für erfolgreiche Friedensarbeit beginnen nicht an den Spitzen der Staaten, sondern an den Wurzeln der Kulturen.

Hier kann es nicht genügen, wenn dieselben Muster und Themen der Vergangenheit immer wiederholt werden, ohne sie programmatisch in Maßnahmen zu überführen. Dass sich Themen konjunkturabhängig wandeln, versteht sich von selbst. Die Engführung der Agenda an risikolos „pragmatischen“ Fragen hat sich nicht geändert: Gesundheit wird zu Medizin, Wissenschaft zu Forschung, Bildung zu Ausbildung, Umwelt zu Klima. Daran ist nichts falsch, man definiert jedoch die gemeinsamen Interessen so, dass die eigentlichen Stärken für Nachhaltigkeit außen vor bleiben. Aus Sicht der Kultur des „Landes der Tugend“ ist zu bedauern, dass es Deutschland an Ehrgeiz mangelt, die eigenen historischen Erfahrungen und Kompetenzen im Umgang mit gesellschaftlichen Trauma- und Krisenbewältigung in den bilateralen Austausch einzuspeisen.

Besonders deutlich wird dies angesichts des Beigeschmacks, der davon ausgeht, wenn die Scholz-Delegation sich nach dem Befinden ursprünglich deutscher Unternehmen vor Ort in China erkundigt, die nach Chongqing, Shanghai oder andernorts gekommen sind, voraussichtlich um dort zu bleiben. Statt einer für beide Seiten segensreichen Zusammenarbeit zeichnet sich ein Trend ab, dass Deutschland noch abhängiger wird – durch die Früchte der einst eigenen Wirtschaftsmacht. Chinaperspektive wird von einer Marktfrage zur Standortbestimmung. Immerhin planen 79 Prozent der befragten Unternehmen, weiterhin in China zu investieren. Deutsche Unternehmen äußern sich zuversichtlich über den chinesischen Markt und beurteilen die langfristigen Aussichten der Wirtschaft in China positiv. China wird immer mehr zur Alternative der Industrieflucht aus Deutschland, nach Polen, der Schweiz oder den USA.

Deutschland hat auch unter Merkel viel Zeit und Gelegenheit verstreichen lassen, seine Bringschuld zu erfüllen, eigene Chinakompetenz aufzubauen, eine Chinastrategie zu entwickeln, die diesen Namen verdient, und nachhaltige Formate für Kooperation und Begegnung mit China voranzubringen, besonders auch in China: deutscher Maschinenbau an der Tongji-Universität ist eine große Errungenschaft, aber ohne die Aufklärung deutscher Philosophie ebensowenig denkbar wie Medizin oder Ökologie. Die häufig beklagte Reduktion der Beziehungen auf Wirtschaftsthemen kann in wertschöpfendes Wissen eingebettet werden – hätte man geisteswissenschaftliche Akzente gesetzt und sich als der kritische Freund empfohlen, den viele Chinesen noch immer in Deutschland sehen wollen. Dabei wäre gerade das starke und selbstwusste neue China der bestmögliche Partner für eine Renaissance des weltbürgerlichen Humanismus, der im 20. Jahrhundert unter die Räder der globalen Industrielogik gekommen ist.

Das würde aber auf deutscher Seite ein echtes Interesse an China als Partner und an Chinesen als Mitmenschen voraussetzen. In den vergangenen Jahren haben sich die Rahmenbedingungen stark verändert. Aber auch den Wandel Chinas vom nachholenden zum taktgebenden Modernisierer sieht Deutschland mit wenig Sympathie und weitgehend ohne Konzept für ein gemeinsames Lernen. Deutschland hat sich seinerseits von einem Faktor der Stabilität zu einem unsicheren Kantonisten entwickelt, der zu sehr mit den Folgen seiner inneren Versäumnisse beschäftigt ist als dass sein Blick über den Tellerrand reichen würde. Für die großen Aufgaben der Sicherung von Wohlstand und Frieden, sowie deren Voraussetzungen Gerechtigkeit und Teilhabe, reicht die Kraft momentan nicht. Die wichtigste Zukunftstechnologie ist freilich das gute Zusammenleben. Denn darin zeigen sich die Regeln und Wege des Erfolges und der Konfliktlösung.

Diese Begegnung gehört in die Tiefe der Gesellschaft. Immerhin senden die Spitzen Signale in diesem Sinne. Der Besuch des Bundeskanzlers im April 2024 verlief unspektakulär und harmlos. Entsprechend nüchtern bleibt die Bilanz: besser als gar nichts und viel besser als „Abkoppeln“. Aber weit entfernt von dem, was das Potential unserer Beziehungen zur Entfaltung bringen könnte.

Ole Döring ist habilitierter Philosoph und promovierter Sinologe. Er arbeitet zwischen Berlin und China an der Verständigung der Kulturen. Er hat eine Vollprofessur an der Hunan Normal University in Changsha inne, ist Privatdozent am Karlsruhe Institut für Technologie und Vorstand des Instituts für Globale Gesundheit Berlin. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: ​Olaf Scholz,Wirtschaftszusammenarbeit,China