Reiseboom: Wie ich persönlich das Reisen in China erlebe
Wir sind gerade auf dem Hotelparkplatz in der Kreisstadt Panzhou in der Provinz Guizhou angekommen, als neben uns ein SUV stoppt und vier junge Chinesinnen unter lauten Gesprächen aussteigen. An der Rezeption des Hotels staut es sich dann, da ich als Ausländer nicht die stark vereinfachte Registrierung nutzen kann. Mein Pass muss kopiert werden. Die Fahrerin des SUV, scheinbar die Anführerin der kleinen Gruppe, spricht mich in gutem English an. Frau Wang aus Harbin, wie sich später herausstellte, hatte ihre langjährigen Freundinnen überredet, mit ihr diese Reise in den Süden Chinas anzutreten.
Das scheint ein neuer Trend zu sein. In China gehen die Frauen mit 55 Jahren, die Fabrikarbeiterinnen sogar mit nur 50 Jahren in Rente. Die Männer arbeiten fünf Jahre länger. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung der Frauen von 81 Jahren sind sie noch jung und agil. Nach dem Ende der Einschränkungen durch die Coronapandemie haben vor allem die älteren Chinesinnen der stark gewachsenen Mittelschicht das große Bedürfnis, das aufzuholen, was sie während der Jahrzehnte zuvor nicht erleben konnten. Gutes Essen, Kultur, Reisen. Die Gesellschaft durchläuft eine Transformation. Nicht alle Großeltern wollen sich im Ruhestand noch um ihre Enkelkinder kümmern.
Nicht nur „junge Rentnerinnen“, sondern auch Familien mit Kindern nehmen als Individualreisende oder in der Gruppe die neue Freiheit wahr. Das stark zunehmende Interesse an aktiver Freizeitgestaltung wird auch von der Regierung gefördert. Es entspricht der Zielsetzung, den Inlandskonsum zu stimulieren. Zur Erreichung des BIP-Wachstumsziels von fünf Prozent unter den gegenwärtigen internen und externen Bedingungen soll der Inlandstourismus eine entscheidende Rolle spielen. Das qualitativ hochwertige Wachstum schließt neben industriellen Innovationen auch den Servicesektor ein. Dies wird der Mittelschicht weiteren Auftrieb geben und damit den Inlandskonsum vorantreiben.
Die demographische Entwicklung steuert in die gleiche Richtung. Der Anteil der alternden Bevölkerung in China steigt. Die meisten von ihnen verfügen über Ersparnisse und Renten, können und wollen ihren Interessen folgen. Sie tragen auch dazu bei, dass der Tourismus innerhalb Chinas zu einem wichtigen Träger des Wachstums wird.
Tourismusinfrastruktur wie Flughäfen, Highspeed-Bahnverbindungen, Straßen, Hotels, Restaurants und touristische Service-Einrichtungen waren bereits vor der Coronapandemie vorhanden, erlebten aber nach der Aufhebung aller Einschränkungen wieder einen Boom.
In die Schlagzeilen der Medien schaffen es meist nur die Zahlen der Reisen während der Spitzenzeiten, zum Beispiel an den nationalen Feiertagen. Chinas Inlandstourismus hat während des Frühlingsfestes 2024 das Niveau von 2019, dem Jahr vor der Coronapandemie, übertroffen. Während der Feiertagswoche zwischen dem 10. und 18. Februar ermittelten die Statistiker ungefähr 474 Millionen Inlandsreisende, was einem Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zum Frühlingsfest 2023 entspricht, wie das Ministerium für Kultur und Tourismus in Beijing mitteilte. Während der Maifeiertage dieses Jahres wurde gemäß dem Ministerium für Kultur und Tourismus ein Anstieg von 28 Prozent gegenüber 2019, also vor der Pandemie, verzeichnet. Dementsprechend meldete das Ministerium für Transport 92 Millionen Bahn-, zehn Millionen Flug- und 1,25 Milliarden Autobahnreisen. Die Zahl der Autobahnreisen ist belegt durch die Durchfahrten an den Mautstationen. Die staatlichen Autobahnen sind in China nämlich gebührenpflichtig. Während der nationalen Feiertage allerdings, wie der Frühlingsfest-, Mai- oder Oktoberfeiertage, sind sie gebührenfrei.
Die hohen Reisezahlen anlässlich der Feiertage sind nicht nur bestimmt durch die Heimreisen der Wanderarbeiter, sondern mehr und mehr auch durch touristische Reisen zu nah und fern gelegenen Zielen. Die entfernter gelegenen Destinationen machen mindestens so viele Reisen aus, wie die zu Sehenswürdigkeiten oder kleineren Städten in der Umgebung.
Nehmen wir Chongqing als Beispiel – eine Stadt, die vor dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers im April dieses Jahres den wenigsten Deutschen bekannt war. Die größte Stadt Chinas mit einer, die Außenbezirke eingeschlossen, Stadtfläche so groß wie Österreich, ist auch das meistbesuchte Reiseziel Chinas. Chongqing liegt am Mittellauf des Yangtses am Rande des fruchtbaren Sichuan-Beckens, der Kornkammer Chinas, umgeben von Gebirgen. Auf Grund dieser Lage hat es eine lange, bewegte Geschichte. Es bietet den Touristen ein umfangreiches Programm: Naturschönheiten, einen historischen Stadtkern mit unendlich vielen Restaurants, modernen innerstädtischen Verkehrslösungen, Museen und auch jahrhundertalten Tempeln. Die Highlights sind das höchste Gebäude der Stadt – 354 Meter hoch mit einer auf 250 Metern gelegenen und 300 Meter langen Gebäudebrücke, die mehrere Hochhäuser verbindet. Sehenswert sind auch die Wohnhäuser durchquerende Stadtbahn sowie die zum Weltkulturerbe gehörenden buddhistischen Felsskulpturen von Dazu. Wenige hundert Kilometer von Chongqing den Jangtse abwärts kann man mit dem Schiff den „Drei-Schluchten-Staudamm“ erreichen und besichtigen. Ein Touristenspot, der jährlich Millionen Reisende anzieht.
Für den Boom des Inlandstourismus der breiten Mittelschicht spielt das wachsende Nationalbewusstsein eine ausschlaggebende Rolle. Man interessiert sich für die tausende Jahre alte Geschichte der chinesischen Nation, man liest die klassischen Romane, wie zum Beispiel die „Drei Reiche“, und möchte dann die historischen Plätze, die Museen besuchen.
Im Museum in Wuhan, Hauptstadt der Provinz Hubei, beispielsweise kann man viele ausgegrabene Objekte mit über 3000 Jahren alter Geschichte bewundern. Jeder Besucher aber möchte vor allem das berühmte 2500 Jahre alte Bronzeschwert des Königs Gojian aus dem Yue-Reich bestaunen. Das eigene Land und deren Geschichte zu entdecken und die Errungenschaften Chinas zu bewundern, darunter die großartigen Infrastrukturprojekte, die seit der Gründung der Volksrepublik China gebaut wurden, das ist eine der stärksten Motivationen für viele Reisende. Staatliche Museen in China sind im Allgemeinen gebührenfrei. Sehenswürdigkeiten wie Tempel oder Naturparks bieten für ältere Besucher reduzierte Eintrittspreise, manchmal sind sie ebenfalls kostenfrei zugänglich.
China ist ein landschaftlich wunderschönes Land – mit Gebirgen, Wüsten, Wäldern, kontinentalem, subtropischem und tropischem Klima. Man muss nicht in andere Länder reisen. In der Wintersaison sind Reisen nach Harbin, Hauptstadt der Provinz Heilongjiang, zum Eis- und Schneeskulpturen-Festival ein besonderer Höhepunkt. Allein während der ersten drei Tage des diesjährigen Neujahrsfestes reisten rund drei Millionen Besucher, meist Inlandstouristen, an.
Im Frühjahr ist der Rhododendron-Garten in Baili in der Provinz Guizhou ein absoluter Anziehungspunkt. In der Zeit von März bis Mai blühen in einem 50 Kilometer langen und fünf Kilometer breiten Wald die Rhododendron-Bäume. Der Rhododendron-Naturpark zieht Millionen Naturfreunde und Hobbyfotografen an. Eine ganze Tourismusindustrie hat sich um den Park entwickelt, mit vielen Freizeitangeboten auch außerhalb der Saison. Durch den Ausbau der Tourismusinfrastruktur um diesen Park konnte die über lange Jahre herrschende Armut in der Region überwunden werden.
Ein touristischer Anziehungspunkt über das ganze Jahr ist das Gebirge um Zhangjiajie, welches 1982 als erster nationaler Naturpark in China und 1992 als UNESCO-Welterbe anerkannt wurde. Die aus Quarz-Sandstein geformten, von üppigen Pflanzen bewachsenen, hunderte Meter hohen Steinsäulen bilden seit der Antike ein Motiv für die chinesische Malerei. Die Touristen drängen sich auf den Kilometer langen Wanderpfaden und an den Aussichtpunkten. Für chinesische Reisende steht ein Besuch dieses Parks ganz oben auf der Wunschliste. Hier wurde auch der 3D-Film Avatar gedreht.
Zu den Höhepunkten der Inlandsre isen gehört natürlich auch die regional sehr unterschiedliche Küche. Entsprechend der Vielfältigkeit der ethnischen Gruppen und der Natur Chinas sind auch die lokalen Speisen und Delikatessen sehr facettenreich. Chongqing ist bekannt für seinen scharfen Chili-Feuertopf und seine typischen Chongqinger Nudeln. Um den großen Andrang zu bewältigen, eröffnete in Chongqing gar das weltgrößte Gartenrestaurant für 5800 Feuertopffreunde, das sogar im Guinnessbuch der Rekorde verzeichnet ist. Besondere Spezialitäten bringen auch neue touristische Attraktionen hervor. Die abgelegene Industriestadt Zibo in Shandong war regional bekannt für ihre gegrillten Fleisch-, Fisch- und Meeresfrüchtespieße. Nach Aufhebung der Corona-Beschränkungen verbreiteten dann Studenten über die sozialen Medien Berichte über die besonders gut schmeckende Spezialität. Millionen von Touristen reisten daraufhin nach Zibo. Die Stadt verwandelte sich in eine Touristenhochburg. Tausende Arbeitsplätze wurden geschaffen, Hotels und Ferienwohnungen sowie Karaoke-Bars schossen aus dem Boden.
Seit 2013 die Belt-and-Road-Initiative, die Neue Seidenstraße, ins Leben gerufen wurde, traten die Geschichte der antiken Seidenstraße und die Rolle Xinjiangs mit seinen Wüsten und Oasen ins Bewusstsein vieler Chinesen. Es wundert daher nicht, dass sich die Oasenstädte Turpan oder Kashgar zu Tourismusmagneten entwickelt haben. Dieser auf die Geschichte der Seidenstraße bezogene Tourismus hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Infrastruktur des autonomen Gebiets. Neben den modernen Flughäfen in Ürümqi und Kashgar empfangen noch über 20 weitere Airports die Gäste. Xinjiang ist auch an das Hochgeschwindigkeits- und das Autobahnnetz des Landes angeschlossen. Durch den Tourismus erhielt das wirtschaftliche Wachstum Xinjiangs neue Impulse. Die orientalischen Märkte in den Städten, wo Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen, darunter auch zentralasiatischer Volksgruppen leben, quellen mit Touristen über. Noch wichtiger aber: Der Austausch zwischen den verschiedenen Ethnien stärkt das Nationalgefühl.
Viele Ausländer wünschen sich eine Reise nach China. Im November vergangenen Jahres kündigte Chinas Außenministerium für die fünf europäischen Länder Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande und Spanien sowie für Malaysia visafreie Einreisen für 15 Tage für Personen mit normalen Reisepässen an. Weitere Länder wie Australien, Neuseeland, Polen, die Schweiz, Ungarn und Österreich folgten.
Diese Maßnahme ist Teil der Bemühungen der chinesischen Regierung, die Tourismusbranche wiederzubeleben. Hierzu hat die Volksrepublik auch ein 144-Stunden-Transitvisum eingeführt. Mit ihm können ausländische Staatsangehörige aus 54 Ländern eine 72- bzw. 144-stündige visafreie Transitpolitik in Anspruch nehmen, um über Häfen und Städte des chinesischen Festlands in ein Drittland oder eine Region außerhalb zu reisen.
Dank günstiger politischer Maßnahmen wie dieser und einem verbesserten Tourismusangebot zeichnet sich ab, dass 2024 ein Rekordjahr für den chinesischen Tourismus werden dürfte. Kein Wunder also, dass in einigen wichtigen Transitstädten und touristischen Zielen wie Beijing, Shanghai und Chengdu Besucher aus verschiedenen Ländern mit Reisetaschen und Kameras zu den Sehenswürdigkeiten und beliebten Restaurants strömen. Nach Angaben der Nationalen Einwanderungsbehörde reisten bis zum 31. Mai dieses Jahres über zwölf Millionen Ausländer nach China ein, von denen rund sieben Millionen die visafreie Einreise in Anspruch nahmen. Die durchschnittliche tägliche Einreisezahl von Ausländern lag bei 79.000, was einem 1,9-fachen Anstieg gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2023 entspricht.
Nach meiner Erfahrung während monatelanger privater Reisen durch China entspricht das in den westlichen Medien verbreitete negative Bild über die Volksrepublik nicht den konkreten Gegebenheiten, insbesondere Xinjiang betreffend. Vielfältige Berichte von ausländischen Einzelreisenden und Reisegruppen zeugen von den angenehmen Überraschungen während der Besuche der modernen Städte und touristischen Attraktionen Chinas. Für alle, die noch nicht in China waren: Es wird Zeit! Eine Chinareise ist in jedem Falle ein unvergessliches Erlebnis.
*Uwe Behrens ist langjähriger Chinakenner und war 27 Jahre unter anderem in China und Indien als Logistikmanager tätig.
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