Der Meister der Schwarzkeramik: Jahrtausendealte Handwerkskunst neu entschlüsselt
Es war ein Sensationsfund, als man 2011 im Kreis Jing'an in Jiangxi einen schwarzen Keramikbecher aus der Jungsteinzeit ausgrub. Das Besondere: Die Wand des Bechers war so hauchdünn wie eine Eierschale. Auch Wu Yingfang war baff angesichts der kunsthandwerklichen Raffinesse des Artefakts. Und das will etwas heißen, denn Wu kommt vom Fach. Er stammt aus einer alten Familie von Keramik- und Porzellanmachern. Bedauerlicherweise sei das Wissen um die Kunst zur Herstellung des dünnwandigen Keramiktrinkgefäßes verloren gegangen, sagt er. Doch damit wollte sich der Handwerksmeister nicht zufriedengeben. Er setzte alles daran, die uralte Fertigungstechnik wieder zum Leben zu erwecken – mit Erfolg.
Eine Geschichte der Weiterführung
Das Keramikhandwerk im Kreis Jing'an hat lange Tradition, wird seit Generationen weitergegeben. Familie Wu ist im Kreis bekannt. Die Sippe führt die alte lokale Handwerkskunst bis heute meisterhaft fort.
Die virtuose Handwerkerader der Familie lässt sich bis in die Qing-Dynastie zurückverfolgen, wo einst Wu Fenqing, Gründer der Familientöpferei, in der Guangxu-Periode (1875-1908) das Licht der Welt erblickte. Wu Fenqing verstand sich auf den Bau traditioneller eiförmiger Long-Brennöfen. Sein Sohn, Wu Yulin, trat in die Fußstapfen des Papas. Von klein auf lernte er das Handwerk seines Vaters, sodass er mit 30 Jahren den gesamten Prozess der Keramikherstellung aus dem Effeff beherrschte.
Die Familie gab ihr handwerkliches Wissen dann von Generation zu Generation weiter, schließlich auch an Wu Xianchong, Wu Yinfangs Vater. Dieser war bereits im Alter von 20 Jahren in der Lage, eigenständig Brennöfen zu bauen, und besaß ein profundes Verständnis für den gesamten Prozess der Keramik- und Porzellanherstellung. Er war als hochqualifizierter Handwerksmeister in einer Porzellanfabrik im Kreis Jing'an tätig und widmete sein ganzes Leben der Wiederbelebung des Brennverfahrens im Jing-Ofen. Neben der Weitergabe der von den Vorfahren ererbten Techniken zum Bau des eiförmigen Long-Ofens befasste sich Wu Xianchong auch mit dem Bau und der Feinabstimmung verschiedener weiterer Holzöfen, allen voran des Mantou-Ofens.
Die Leidenschaft für die Töpferei übertrug sich vom Vater zum Sohn. Auch der junge Wu Yingfang trug den Samen des „Keramiktraums“ schon früh tief in seinem Herzen. „In Kindertagen nahm mich mein Vater oft mit in die Fabrik, wo ich die unzähligen Keramiken und Porzellanwaren bestaunte. Mit Vergnügen vergrub ich meine Finger im feuchten Ton und begann, selbst zu modellieren. Sobald der blasse Ton auf Feuer traf, verwandelte er sich in zauberhaftes Porzellan, was mich sehr faszinierte“, schildert der heute 53-Jährige den Beginn seiner Leidenschaft.
Unter der Anleitung des Vaters war der junge Handwerksmeister schon im zarten Alter von sechs Jahren imstande, mit geschickten Handgriffen kleine Gefäße zu formen und bewies damit ein erstaunliches Talent. Mit 17 Jahren begann er schließlich seine berufliche Laufbahn und vertiefte sich in die Erforschung der Schwarzkeramik. „Mein großer Traum war es schon damals, die Schönheit schwarzer Töpferwaren wieder zum Leuchten zu bringen“, erzählt er uns.
Diesem Ziel widmet sich Wu nun schon seit über 30 Jahren, bis heute. Der emsige Handwerksmeister hat sich mittlerweile über die Region hinaus einen Namen gemacht – als nationaler Modellarbeiter, Überlieferer des immateriellen Kulturerbes auf Provinzebene und Spitzenfachkraft der Provinz Jiangxi. Auch auf seine Söhne ist der Funke übergesprungen. Auch sie engagieren sich für die Weitergabe des traditionellen Töpferhandwerks. Mittlerweile ist sein ältester Sohn, Wu Shi, ebenfalls offizieller Erbe des immateriellen Kulturerbes. Bereut hat er diese Entscheidung nie: „Nach meinem Studienabschluss kehrte ich in die Heimat zurück, um das Handwerk meiner Familie fortzusetzen. Mein Bruder Wu Chao beschäftigte sich schon damals mit der Keramikmalerei und traf nach seinem Abschluss die gleiche Entscheidung wie ich“, erzählt Wu Shi.
Das Geheimnis der dünnwandigen Schwarzkeramik
Dünnwandige Schwarzkeramik gilt als Höhepunkt der antiken chinesischen Töpferkunst. Sie wird von Archäologen als feinstes Kunsthandwerk gefeiert, dass es vor viertausend Jahren auf dem Globus gab. Als 2011 dann ein Schwarztongefäß in der Tigerhügel-Ausgrabungsstätte in Jiangxi entdeckt wurde, dessen dünnste Stelle nur 0,4 mm betrug, war die Begeisterung entsprechend groß. Leider war die antike Brenntechnik dieser Töpferkunst verloren gegangen. Mangels Aufzeichnungen blieb das Geheimnis ihrer Herstellung lange ungelöst.
Die meisterhafte Herstellungstechnik der dünnwandigen Schwarzkeramik beeindruckte auch Wu zutiefst. Er beschäftigte sich damals schon seit Jahren mit der Weitergabe der Schwarztöpferei. Dünnwandige Schwarztöpferei war allerdings auch für ihn zu jenem Zeitpunkt Neuland. „Damals trat Zhang Longfei, der Kreisvorsteher von Jing'an, an mich heran und bat, ich solle mich der Sache annehmen. Am Anfang hielt ich das für einen Klacks! Wenn das die Menschen vor über viertausend Jahren schon unter den damaligen Bedingungen konnten, dürfte das für mich ja ein Kinderspiel sein, so dachte ich.“ Die Realität sollte den 53-Jährigen eines Besseren belehren.
Erst als Wu sich an die Arbeit machte, erkannte die Koryphäe, dass es viele Herausforderungen gab. Die Brenntechnik dieser Töpferkunst war schon seit Jahrtausenden verloren gegangen. „Man muss sich auf Erfahrung und Inspiration verlassen, um das Wissen der Antike wieder zutage zu fördern“, sagt Wu. Um geeigneten Ton für die dünnwandige Töpferware zu finden, reiste Wu fast durch ganz Jing'an. Nach wiederholten Tests tat er schließlich einige Tonarten auf, die plastisch, fein und schadstofffrei waren, was sie für die Herstellung dünnwandiger Schwarzkeramik prädestinierte.
Der nächste Schritt bestand in der Herstellung des Formlings. Da die Wand der Keramikgefäße sehr dünn ist, lässt sich die Dicke nicht durch Klopfen auf den Formling beurteilen, sondern nur mithilfe eines Modelliermessers. Und dessen Einsatz erfordert höchstes Fingerspitzengefühl. „Selbst übermäßiges Atmen oder kleinste Bewegungen können zum Scheitern führen“, beschreibt Wu die aufwendige Prozedur. 2019 gelang es dem Töpfermeister dann endlich, eine dünnwandige Schwarzkeramik zu kreieren, deren dünnste Stelle nur 0,2 mm betrug.
Beim Brennen liegt dem Handwerksmeister auch der Umweltschutz am Herzen. Er verzichtet bewusst auf die Zugabe chemischer Stoffe und verwendet nur naturbelassenes Holz. „Die Wiederentdeckung der Herstellung dünnwandiger Schwarzkeramik hat mir die tieferliegende Wahrheit des taoistischen Prinzips der Einfachheit vor Augen geführt. Mittlerweile verzichte ich komplett auf den Einsatz von Chemikalien und verwende nur natürliche Materialien in ihrer Reinform. Idee ist es, in einen Dialog mit der Natur zu treten – ganz so, wie es einst schon unsere Vorfahrer taten“, schwärmt Wu.
Dank seiner Bemühungen gelang der Kunst der Schwarzkeramikherstellung 2017 der Sprung auf die offizielle Liste des immateriellen Kulturerbes der Provinz Jiangxi. Wu wurde zum repräsentativen Erben auf Provinzebene ernannt.
Die Saat der Vergangenheit in die Zukunft tragen
Seit Jahren steht Wu mit Keramikliebhabern und Praktikern der Branche in engem Kontakt und tauscht Erfahrungen mit ihnen aus. Darüber hinaus hält er als Gastprofessor immer wieder an Universitäten Vorlesungen, um das traditionelle Handwerk weiterzuführen.
„Neben meinen persönlichen Bemühungen legen die Lokalregierungen auch großen Wert auf die Weiterführung der Schwarzkeramikkultur und unterstützen mich tatkräftig“, sagt Wu. In den letzten Jahren habe der Kreis Jing'an ein akademisches Austauschzentrum, ein Museum für immaterielles Kulturerbe und eine Forschungsbasis mit insgesamt über 3000 Quadratmetern aufgebaut, um der Welt die Geheimnisse der antiken schwarzen Keramik näherzubringen.
„Ich habe sogar eine Schülerin aus Beijing, die sich sehr für schwarze Keramik interessiert“, erzählt uns der 53-Jährige stolz. „Sie begann 2016 bei mir zu lernen und hat bis heute durchgehalten. Inzwischen ist sie in der Lage, selbst entsprechende Keramik herzustellen“, sagt Wu. „Da der Staat sich die Fortführung der traditionellen Kultur auf die Fahnen geschrieben hat, freut es mich umso mehr zu sehen, dass immer mehr junge Leute sich dem Schutz des immateriellen Kulturerbes widmen.“