Ein interkultureller Erfahrungsbericht: Schreiben Chinesen anders als Deutsche?
von Nils Bergemann
Klausur an der University of International Business and Economics: Germanistikstudenten lernen nicht nur Deutsch, sondern sie erwerben auch interkulturelle Kompetenzen. (Foto: Nils Bergemann)
In meiner Zeit als Redakteur bei der China Media Group und jetzt als Hochschullehrer an der University of International Business an Economics (UIBE) habe ich viele deutsche Texte aus chinesischer Feder zu Gesicht bekommen, Übersetzungen von chinesischen Büchern gelesen und mich auch oft mit chinesischen Kollegen und Studenten über kulturspezifische Eigenarten ausgetauscht. Ich denke, dass Chinesen und Deutsche trotz Globalisierung tatsächlich oft andere Ziele und Stile beim Schreiben haben, zum Beispiel sind sie eher zurückhaltend indirekt oder forsch direkt.
Texte von Chinesen sind tendenziell impliziter und indirekter. Der Deutsche würde sagen: Chinesen reden (schreiben) etwas um den heißen Brei herum. Emotionen werden manchmal subtil ausgedrückt, um Harmonie und Respekt zu wahren. Allerdings liegt das Augenmerk oft auf der Darstellung eines Gesamtbildes, statt persönliche Gefühle in den Vordergrund zu stellen – natürlich besonders in Romanen.
Deutsche Texte sind oft direkter und weniger emotional. Persönliche Gefühle werden, zumindest bei formellen Texten, Präzision und Objektivität untergeordnet. Bei der persönlichen Kommunikation darf es jedoch auch bei Deutschen emotional zugehen, oft kontrolliert, aber manchmal auch frei in Form eines deutschen Wutausbruchs bei einem Beschwerdebrief an einen Telefondienstanbieter oder in Form der landestypischen Nörgelei. Die langsamere und nicht so direkte Art der Chinesen erweist sich oft als der konfliktärmere und klügere Kommunikationsstil. Für bilaterale Teams in Unternehmen empfiehlt sich auf jeden Fall ein Crash-Kurs in interkultureller Kommunikation.
Was Logik und Argumentation angeht, kreisen Chinesen, während Deutsche immer geradeaus auf der Autobahn fahren. Argumentationen in chinesischen Texten können zyklisch oder thematisch aufgebaut sein. Chinesen nähren sich kreisend wie ein Adler dem Ziel oder Thema. Sie haben dabei aber oft eine gute Übersicht und passen den richtigen Augenblick ab, um das beste Argument anzubringen. Sie folgen also nicht immer einer linearen Struktur und können durch die kreisförmige Betrachtungsweise verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der deutsche Leser muss oft zwischen den Zeilen lesen und den Kontext interpretieren. Manchmal schüttelt er aber nur den Kopf, weil er es nicht entschlüsseln kann.
Deutsche Texte sind in der Regel stark durch logische Argumentation geprägt. Der Aufbau ist meist klar und linear wie eine frisch gebaute Autobahn. Oft gibt es tatsächlich eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Schluss. Es wird Wert auf sachliche Beweise und eine durchgehende argumentative Linie gelegt, die den Leser direkt zur Schlussfolgerung führt oder auch dem Leser die Illusion gibt, er wäre selbst darauf gekommen. Wenn im Kopf des Lesers selbst die Lösung aufleuchtet, ist das übrigens die eleganteste und nachhaltigste Methode.
Bei der Struktur und Organisation gibt es Parallelen zu letztgenanntem Punkt. Die einen Texte sind locker aufgebaut, die anderen hart wie Stahl. Sie haben es sicherlich schon geahnt: Chinesische Texte können eine eher lockere Struktur haben. Traditionell wird dem Gesamtbild, wie schon gesagt, mehr Beachtung geschenkt als einer strikten logischen Reihenfolge. Es kann vorkommen, dass der Hauptpunkt nicht am Anfang, sondern am Ende oder sogar implizit vermittelt wird. Manche Texte können für ungeübte Leser den Anschein von fehlender Gliederung erwecken. Allerdings ist spätestens seit „Pulp Fiction“ die nicht chronologische Erzählweise auch im Westen populär.
Deutsche Texte folgen meist einer klaren, strukturierten Ordnung. Dies beginnt oft mit einer These oder einem klaren Standpunkt, gefolgt von detaillierten Argumenten und einer abschließenden Schlussfolgerung. Klarheit und Ordnung sind hierbei zentrale Prinzipien. Andererseits behaupten böse Zungen, dass es China inzwischen in fast allen Bereichen ordentlicher zugeht als in Deutschland.
Wenn es um Eloquenz und Bildhaftigkeit oder Prägnanz und Klarheit von Texten, also die Kür oder die Pflicht geht, zeigen sich auch kulturelle Unterschiede. In der chinesischen Kultur wird es durchaus bis heute noch geschätzt, wenn Texte eloquent und kunstvoll formuliert sind, oft unter Verwendung von Metaphern, Zitaten und historisch-kulturellen Bezügen. Dies kann den Text zwar weniger prägnant erscheinen lassen, aber dafür bedeutungsvoller und ästhetischer machen.
Prägnanz ist ein wesentliches Merkmal deutscher Texte. Viele Deutsche legen Wert darauf, Informationen klar, knapp und ohne überflüssige Ausschmückungen zu präsentieren. Unnötige Komplexität oder poetische Ausschweifungen sind in formalen Texten eher selten.
Wenn Sie mit der Tür ins Haus fallen, statt den Gesprächspartner langsam auf Ihr Anliegen vorzubereiten, wurden Sie wohl eher in Deutschland sozialisiert. „Konflikte scheuen oder direkte Worte bereuen?“ ist hier die Frage.
Indirektheit spielt in chinesischen Texten eine viel größere Rolle als in deutschen. Um Konfrontationen zu vermeiden und Respekt zu zeigen, wird oft eine vorsichtige und indirekte Ausdrucksweise verwendet. Aussagen können implizit bleiben, was dem Leser Raum für Interpretationen lässt. Chinesische Höflichkeit ist definitiv ein Plus. Die heutige Generation kann jedoch auch direkt sein, wenn es darauf ankommt. Westliche Medien, Reisen und internationaler Austausch sind „Schuld“ daran.
Deutsche Texte sind eher direkter. Sachverhalte werden meist ohne Umschweife und sehr klar formuliert. Man kommt schnell zum Punkt. Es gibt weniger Spielraum für Interpretationen, da deutsche Autoren gerne Missverständnisse vermeiden und Informationen präzise übermitteln wollen. Diese Direktheit kann Gesprächspartner aus dem asiatischen Kulturraum irritieren und manchmal auch verletzen.
Wie steht es um kulturelle Einflüsse und den historischer Kontext bei chinesischen und deutschen Texten? Kurz gesagt: Es geht um Konfuzius versus Kant.
In der chinesischen Kultur ist eine starke Tradition des Konfuzianismus, der Harmonie, Hierarchie und des Respekts vor Autoritäten wichtig. Dies spiegelt sich oft in der indirekten Kommunikation und der Betonung des Kontexts wider. Literatur und Schriften sind oft tief in Geschichte und Philosophie des Landes verwurzelt.
Deutsche Texte sind stark von der Aufklärung und dem Rationalismus geprägt. Es wird Wert auf Vernunft, Wissenschaft und eine klare Darstellung von Fakten gelegt. Historisch spielt auch der deutsche Idealismus eine Rolle, der ebenfalls präzises Denken und Argumentieren betont. Chinesen würden vielleicht denken: „Nur die deutschen bekommen es hin, eine Vernunftphilosophie (Kant) zu entwickeln und so dem gefühlsbetonten romantischen Philosophieren mit kalter Logik den Garaus zu machen.“ Aber vielleicht ist heute Darwin auch beim Schreiben wichtiger als Kant?
Ziel und Zweck von Texten können das Gesicht wahren oder klare Botschaften sein. In der chinesischen Kultur kann der Zweck eines Textes darin bestehen, Beziehungen zu pflegen, Harmonie zu bewahren und gesellschaftliche Normen zu bestätigen. Der Text ist oft ein Mittel, um subtile kommunikative Ziele zu erreichen, wie die Gesichtswahrung und Respekt. Allerdings werden heute auch viele Texte geschrieben, die Ziele des Verfassers direkt oder versteckt beinhalten.
In der deutschen Kultur steht der informative oder argumentative Zweck des Textes im Vordergrund. Es wird oft erwartet, dass ein Text eine klare Botschaft oder ein Ziel verfolgt, sei es, zu informieren, zu überzeugen oder zu erklären. Es gibt aber auch im Land der Dichter und Denker den gefährlichen Trend, einfach etwas zu behaupten, ohne ein einziges Argument anzubringen.
Chinesische Texte sind also oft subtiler, emotionaler, indirekter, kreisender und respektvoller, während deutsche Texte manchmal präziser, logischer, direkter und strukturierter sind. Beide Kulturen legen jedoch Wert auf den jeweiligen Kontext: In China ist das soziale und kulturelle Umfeld von großer Bedeutung, in Deutschland hingegen stehen Klarheit und Effizienz im Vordergrund. Durch kulturellen Austausch und die Internationalisierung von Medien und Bildung kann man allerdings heute die schriftliche Kommunikation von Chinesen und Deutschen nicht mehr ganz so trennscharf unterscheiden. Ich weiß, dass schriftliche und mündliche Kommunikation von Chinesen und Deutschen – am besten in beiden Sprachen – menschlich, wissenschaftlich und wirtschaftlich sehr gewinnbringend sein kann. Wir können viel voneinander lernen.
*Nils Bergemann ist studierter Journalist mit langer Erfahrung als Redakteur und Kommunikationsexperte bei Verlagen und anderen Unternehmen. Zuletzt arbeitete er fünf Jahre für die China Media Group. Weiterhin in Beijing lebend unterrichtet er seit 2023 Deutsch, Sprachwissenschaften und Wirtschaft an der University of International Business and Economics.
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