Stoff zum Träumen: Alte Stickkunst neu im Trend
Im Großraum Suzhou liegt die kleine Gemeinde Zhenhu. Das malerische Städtchen mit seinen traditionellen Bauten liegt idyllisch am Ufer des Taihu-Sees mit seiner glitzernden Wasserfläche. Berühmt ist der Ort aber nicht in erster Linie für seine ansehnliche Architektur und Landschaft, sondern für seine feine Stickkunst. Seit der Antike leben die Menschen hier von diesem filigranen Handwerk. Es blickt auf eine über zweitausendjährige Geschichte zurück.
Auf rund 20.000 Einwohner kommen hier 8000 Menschen, die sich mit der Stickerei beschäftigen. Zhou Xiaojing ist eine davon. Mit geschickten Handgriffen zaubert die junge Chinesin mit Nadel und Faden ganze Welt auf Stoff. Sie hat uns exklusive Einblicke in ihre Arbeit gewährt.
Eine Passion
Zhous Atelier befindet sich in der Stickerei-Straße, einer Flaniermeile mit reichlich Lokalkolorit. Von den etwa 400 Geschäften hier, die die Gasse säumen, sind mehr als 300 Stickateliers.
Die Stickkunst scheint den Menschen in Zhenhu in Fleisch und Blut übergegangen. Seit Generationen wird das alte Handwerk eifrig fortgeführt. Mädchen lernen die Suzhou-Stickerei meist schon in jungen Jahren, und zwar von ihren Müttern. Das ist hier alte Tradition. Geboren in einer solchen Stickerei-Stadt kam auch Zhou schon von Kindesbeinen an mit der Stickkultur in Berührung. „Meine Großmutter und meine Mutter sowie auch andere ältere Frauen in der Familie sind alle in der Stickkunst bewandert“, erzählt sie. „Die meisten Frauen bei uns bestreiten ihren Lebensunterhalt mit dieser Fertigkeit.“ Als sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen sei, habe auch sie begonnen, das alte Handwerk zu erlernen. „Es hat mir dann so viel Freude bereitet, dass ich gerne den Staffelstab von meiner Mutter übernahm und das Sticken letztlich zu meinem Hauptmetier gemacht habe“, sagt die 35-Jährige.
Dabei ist die Ausbildung zur professionellen Stickerin alles andere als ein Zuckerschlecken. Drei bis fünf Jahre dauert es, bis man alle Grundtechniken sicher beherrscht. Für ausgefeiltere Handgriffe bedürfe es gar jahrzehntelanger Übung, sagt Zhou. „Nur wer mit Herzblut dabei ist, bleibt am Ende am Ball.“ Wegen des eher spärlichen Einkommens, der harten Ausbildung und anderer äußerer Faktoren entschieden sich mittlerweile viele junge Frauen vor Ort gegen eine Karriere als Stickerin.
Auch die junge Koryphäe sieht sich mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Seit Jahren trage sie eine Frage mit sich herum: „Zwar kann ich durch Übung meine Technik immer weiter verfeinern, aber wie lassen sich meine Kunstwerke noch lebendiger machen?“
Inspiration und Antworten auf diese Frage findet Zhou in der realen Welt. „Wenn ich Pfingstrosen sticke, schaue ich mir echte Pfingstrosen an und studiere genau, wie sich ihre Blütenblätter kräuseln. Wenn ich Motive südchinesischer Wasserstädte in meinen Stoffen verewige, gehe ich vorab raus und spüre der Atmosphäre solcher Wasserstädte nach. Wenn ich Goldfischmotive erschaffe, kaufe ich mir einen echten Goldfisch und studiere seine Schwimmbewegungen und sein Aussehen“, verrät uns die Nadelvirtuosin. Doch Zhou ahmt nicht nur die Dinge der Natur nach, sondern lässt auch eigene Ideen in ihre Stickereien einfließen, um ihre Werke lebendig zu machen.
Wie Malen mit Stoff und Faden
Kürzlich ging eine doppelseitige Goldfisch-Stickerei der Künstlerin im Internet viral. Die Goldfische in ihrem Werk erscheinen so lebensecht, als schwämmen sie wirklich im Wasser. Besonders von den schillernden, fast transparenten Schwanzflossen der Fische zeigten sich die Netizens entzückt.
Doppelseitige Stickerei sei eine ihrer Lieblingstechniken, schwärmt Zhou. Es stecke sehr viel Mühe in der Gestaltung der Flossen. Stolz zeigt sie uns das Originalwerk: „Um das Aussehen eines schwimmenden Goldfisches realistisch wiederzugeben, braucht man hauchdünne Seidenfäden. Ich habe dafür einen Seidenfaden in 128 Teile geteilt und dann einen davon zum Sticken verwendet“, sagt sie.
„Solche geteilten Fäden sind sehr leicht und dünn. Wenn man nicht aufpasst beim Atmen, fliegen sie einfach davon. Die Arbeit erfordert höchstes Fingerspitzengefühl. Drückt man zum Beispiel zu fest mit den Fingern zu, brechen die filigranen Linien leicht“, beschreibt Zhou die aufwendige Prozedur. „Wenn man schillernde Goldfische lebensecht in einer Stickerei einfangen will, braucht man außerdem kunterbunte Fäden. Aber das geteilte Garn ist zu dünn, um die Farbe mit bloßem Auge zu erkennen. Das stellt die Geduld und Technik einer Stickerin auf eine harte Probe. Auch für mich ist das eine große Herausforderung“, sagt das Nachwuchstalent und lacht.
Doch die Mühe zahle sich aus, betont die 35-Jährige. Obwohl die Suzhou-Stickerei in der heutigen Gesellschaft nicht mehr denselben Stellenwert habe wie in der Vergangenheit. „Umso mehr freut es mich daher, dass meine doppelseitige Goldfisch-Stickerei im Internet eine Begeisterungswelle entfacht hat und den Menschen so einen Zugang zur Stickerei-Welt eröffnet. Meine große Hoffnung ist es, dass unser traditionelles Kunsthandwerk durch Werke wie dieses wieder stärker in den Fokus rückt.“
Fortführung und Innovation
Wer die Herzen junger Menschen gewinnen wolle, müsse Neues bieten, ist Zhou überzeugt. Deshalb ist die junge Chinesin stets auf der Suche nach neuen Impulsen zur Weiterentwicklung der Suzhou-Stickerei. „Fortführung und Innovation – das ist die Mixtur, für die ich mich entschieden habe“, sagt sie. In den letzten Jahren besuchte Zhou Xiaojing daher oft als Gasthörerin eine Kunsthochschule und erforschte verschiedene Kunststile, um neue Elemente in ihre Stickereien einfließen zu lassen. „Früher war die Suzhou-Stickerei stärker an die traditionelle chinesische Malerei und Kalligraphie angelehnt. Jetzt bringt die neue Generation an Stickerinnen frischen Wind. Es gibt zum Beispiel viel mehr freie Flächen, was eher den Geschmack der heutigen Jugend trifft.“
Längst lässt Zhou ihre kreative Energie auch in andere Artikel fließen und beweist damit Trendgespür. „Wir verzieren zum Beispiel Schmuck, Kleidung und Möbel, ja sogar Kopfhörer und Handyhüllen mit Stickelementen“, erzählt sie uns. Zhou und ihre Kolleginnen arbeiten stetig daran, die alte Kunstform alltagstauglich zu machen und Produkte herzustellen, die sowohl praktischen als auch ästhetischen Wert haben.
Als traditionelles chinesisches Handwerk zählt die Suzhou-Stickerei zu den vier großen Stickkünsten Chinas. Seit 2006 ist sie als nationales immaterielles Kulturerbe gelistet. 80 Prozent der Suzhou-Stickprodukte stammen noch immer aus Zhenhu, der Wiege der Suzhou-Stickerei.
In den letzten Jahren ist die Stickindustrie in Zhenhu weiter gewachsen. Derzeit liegt der hiesige Jahresproduktionswert bei rund 1,5 Milliarden Yuan. Und auch die Einflusskraft der Kunstform steigt: Schon mehrfach wurden ihre Werke als Staatsgeschenk an ausländische Staatsoberhäupter überreicht und dienten bei wichtigen nationalen Veranstaltungen als Geschenk.
Auch die Stadtregierung von Suzhou engagiert sich intensiv für den Ausbau und die Stärkung der örtlichen Stickindustrie, fördert deren Fortführung und Weiterentwicklung. In Zhenhu wurde eigens ein Industriecluster geschaffen, bestehend aus der Stickerei-Straße, einem Stickmuseum und einem eigenen Ausstellungszentrum. Damit werden alle wichtigen Teile der Industriekette abgedeckt, einschließlich Forschung und Entwicklung, Herstellung, Patentanmeldung und geistiger Eigentumsschutz. Im Zentrum der Entwicklung aber stehen noch immer die vielen lokalen Ateliers und ihre Stickerinnen. Mit ihren Ideen und Innovationen hauchen sie der Branche neuen Wind ein und verleihen der alten Kunstform bei der Jugend eine gewisse Coolness.