Home Aktuelles
Multimedia
Service
Themenarchiv
Community
Home>Wirtschaft Schriftgröße: klein mittel groß
10. 02. 2012 Druckversion | Artikel versenden| Kontakt

China ist nicht Amerika!

Schlagwörter: China USA Lebensstil Mittelklasse

Von David Lundquist

Die Chinesen können es sich nicht erlauben, den Alptraum von der Überflussgesellschaft wahr zu machen.


Die Bevölkerungsentwicklung gibt Anlass zu Sorge: der Druck auf die sozialen Sicherungssystem wächst

Man siehe die Amerikanisierung Chinas und staune: Fast Food serviert in doppelten Portionen, Fettleibigkeit und dicke Geländewagen, welche die Straßen verstopfen. Das Reich der Mitte nimmt Kurs auf amerikanische Lebensverhältnisse, so wie sie in Hollywoodfilmen und US-Fernsehserien vorgebetet werden.

Das allerdings wird nicht funktionieren: es fehlt an Nachhaltigkeit. In China leben 1,3 Milliarden Menschen, da gilt es dem Beispiel Europas zu folgen, und nicht dem Irrweg Amerikas zu Wahnsinnskonsum und hemmungsloser Verschwendung. Dies wird nicht leicht sein. So außergewöhnlich die letzten dreißig Jahre in China auch gewesen sein mögen, Chinas Neureiche haben ein unrealistisches Bild des Wohllebens gezeichnet, auf dem vor allem riesige Wohnungen, Autos und Parkplätze zu sehen sind.

Warum finde ich dieses Bild unrealistisch?

Chinas Mittelschicht umfasst derzeit rund 100 Millionen Menschen. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wird sie auf schätzungsweise 700 Millionen angewachsen sein. Aber halten wir uns nicht mit Statistiken und Prognosen über chinesische Verhältnisse auf, sondern blicken wir auf den asiatischen Kontext. Chinesische Wissenschaftler haben bereits eine Reihe von Problemen erkannt und benannt. So spricht der Dekan der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Nanjing Universität davon, dass die Mittelschicht in Ländern wie Japan und China schlichtweg nicht in der Lage sein wird, einen amerikanischen Lebensstil zu pflegen. Allein schon deshalb, weil nicht genügend Ackerland zur Verfügung steht und die Einwohnerzahl zu hoch ist.

Das ist eigentlich auch nicht weiter verwunderlich. Japans Bevölkerung wohnt auf engem Raum und bekennt sich immer mehr zu einer CO2-armen Lebensweise. In China wird sich das schwieriger gestalten, denn der Weg zum Wohlstand wird trotz einiger Hindernisse mit erstaunlichem Tempo beschritten.

Die demographische Lage ist besorgniserregend, vor allem hinsichtlich der Alterspyramide, der Frage einer angemessenen medizinischen Versorgung und der Belastbarkeit der Altersrenten. Das 4-2-1 Muster aus Großeltern, Eltern und Einzelkind bürdet der jüngsten Generation eine enorme Last auf: Es gilt, zwei Generationen auf dem Altenteil zu versorgen und zugleich Geld für den eigenen Hausstand und die Erziehung der eigenen Kinder zurückzulegen. Ungeachtet allen sozialen Wandels hat China ein traditionelles Wertesystem bewahrt, das vor allem den männlichen Teil der Bevölkerung für das Bestreiten des Lebensunterhalts in die Pflicht nimmt. Potenzielle Ehefrauen stecken mit ihren Ansprüchen durchaus nicht zurück. Hier zeichnet sich eine Lücke in den Erwartungshaltungen ab, und auf China könnte – wie schon lange in Japan und Südkorea – eine sinkende Bereitschaft der Menschen im heiratsfähigen Alter zukommen, das Wagnis Ehe einzugehen.

Gehäuft auftretende Fettleibigkeit stellt ebenfalls eine Herausforderung für Chinas im Aufbau begriffenes System sozialer Sicherung dar. Davon sind vor allem die Jungen betroffen: ein Drittel der chinesischen Buben weist Übergewicht oder Fettleibigkeit auf. Konträr zur vorherrschenden Meinung im Westen (und mittlerweile sogar in den USA) wird Leibesfülle in China positiv konnotiert, als ein Zeichen von Wohlstand. Dies weckt die Befürchtung, dass ein steigendes Einkommensniveau automatisch Krankheiten mit sich bringt, die in ursächlichem Zusammenhang mit Übergewicht stehen. Wie in den Vereinigten Staaten sind über den Tellerrand lappende Fleischberge und Hummer in Buttersoße mittlerweile auch in China Statussymbole geworden. Das führt zu gesundheitlichen Problemen und Nachhaltigkeitsfragen, die sich China eigentlich nicht erlauben kann.

Von verstopften Blutgefäßen komme ich nun zu verstopften Straßen. Wie die Bewohner chinesischer Großstädte sehr gut wissen, kann die städtische Infrastruktur nicht so viele Autos verkraften, wie sich wohlhabende Stadtbewohner gerne kaufen würden. Die Luft sollte noch zu atmen sein. Bereits im Jahr 2017 wird Chinas pro-Kopf-Emission von Schadstoffen die der USA übertroffen haben. Selbst bescheidene Reduktionsziele werden nicht zu erreichen sein, wenn sich jeder Chinese, der es sich leisten kann, ein Kraftfahrzeug zulegt. China sollte sich stattdessen die Pläne einiger europäischer Staaten zum Vorbild nehmen, und die Innenstadtbereiche fußgängerfreundlich und mitunter sogar ausgesprochen autofeindlich gestalten.

Der Bau von Autobahnen im Hinterland kann sich in einem Land wie China, wo Hunderte von Millionen noch immer über kaum mehr als Hacke und Sichel als Mittel zum Erwerb ihres Lebensunterhalts verfügen, als umweltschädlich und sozial wenig wünschenswert erweisen, wie Lu Dadao von der Akademie der Sozialwissenschaften es kürzlich in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Caixin formulierte. Natürlich braucht China eine bessere Verkehrsinfrastruktur, damit die Transportkosten sinken, die zur Inflation der chinesischen Lebensmittelpreise beitragen. Was China allerdings sicherlich nicht braucht, das sind kolossale Verkehrsstaus oder eine noch höhere Zahl von Verkehrsunfällen. Kurz gesagt sollten Autobahnen im Interesse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes gebaut werden, und nicht als Selbstzweck oder für die Mobilitätsbedürfnisse privater Fahrzeugeigner.

Die hochfliegenden Pläne des chinesischen Mittelstandes werden sich nur innerhalb der Grenzen der räumlichen und ökologischen Möglichkeiten des Landes verwirklichen lassen. So lautet zumindest die Theorie, die aber mit jeder Reisewelle außer Kraft gesetzt zu werden scheint. Jedes Mal wird dann ein Massenandrang freigesetzt, der erstaunt. Die Entschlossenheit der Chinesen, die Kapazitäten des Landes bis aufs Äußerste auszureizen, wird alljährlich zum Neujahrsfest vor Augen geführt, wenn sich buchstäblich das ganze Land auf Achse befindet, nur damit jedermann die Feier im oft weit entfernten Familienkreise verbringen kann. Aber auch die Urlaubszeit in der Woche um den Nationalfeiertag am 1. Oktober oder der Ausflugsverkehr an einem gewöhnlichen Wochenende in Beijing lassen den Beobachter nicht unbeeindruckt.

Wie die Amerikaner, so nehmen auch die Chinesen keine Niederlagen hin. Sie lassen sich nicht dauerhaft in das Korsett sozialer Klassen zwängen. Auch Habenichtse wollen es hier zu etwas bringen. Für Amerikaner wie mich lässt sich das leicht übersetzen in einen gewissen materiellen Überfluss, der uns dank Wal-Mart und ähnlichen Billiganbietern zur Verfügung gestellt wird. In den letzten Jahrzehnten war es für meisten Chinesen eine Frage des Erwerbs von Status, wenn sie vor dem Neujahrsfest nächtelang in einem überfüllten Eisenbahnwagen standen, nur um zum Fest ein paar Stunden in der alten Heimat zu verbringen. Bald aber werden sie sich wünschen, was Amerikaner schon heute genießen - oder sollte ich besser sagen, worunter Amerikaner schon heute leiden: Materieller Überfluss, oft in der Gestalt von Statussymbolen.

Das aber kann nicht ohne weiteres von der chinesischen Gesellschaft und den ökologischen Grundlagen des Landes geliefert werden. Es gibt - wie gesagt - ein anderes Modell, das zu kopierten sich lohnte: Europa, wo Lebensqualität in viel geringerem Maße von materiellen Dingen abhängig ist. Um es einmal allzu sehr zu vereinfachen: Die europäische Kultur setzt vor allem auf drei Werte: Gesundheit statt Reichtum; Stabilität statt Abenteuer und Verteilungsgerechtigkeit statt Ellenbogengesellschaft.

In welchem Umfang kann China diese Einstellung übernehmen? Das ist noch unklar. Amerikaner und Chinesen finden leicht Gefallen an der Jagd nach Reichtum, zumindest bevorzugen sie dies gegenüber der gemächlicheren Gangart der Europäer. Hinzu kommt, dass Chinesen wie die Amerikaner durchaus bereit sind, Vermögensunterschiede zu akzeptieren, die im Nachkriegseuropa weitgehend eingeebnet worden sind. In einem Zeitalter gewaltiger Transformation des Wirtschaftslebens wird die selbstgenügsame Feststellung "Hauptsache, gesund!" kaum ausreichend Trost spenden, wenn der Nachbar eine Zweitwohnung mit Meeresblick erwirbt oder seine Kinder zum Studium oder gar zum Besuch der Mittelschule ins Ausland schickt.

Wie also sollen Chinas Planer zu Werke gehen? Ich gehe davon aus, dass - wie bei so vielen Dingen - Veränderungen nicht durch Zuckerbrot und Peitsche in Gang gesetzt werden, sondern durch eine Graswurzelbewegung von Teilen der chinesischen Gesellschaft, die sich bewusst gegen das amerikanische Lebensmodell entscheiden. Die Popularisierung eines nachhaltigen, CO-armen Lebensstils, vielleicht sogar bereichert um einen Glamourfaktor, wird dabei sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Öffentliche Verkehrsmittel und eine weniger lieblose Baugesinnung in den Städten gehören sicherlich auch dazu, genauso wie die Verbindung zwischen Umweltgedanken und Fortbestand der attraktiven Naturlandschaften und Kulturstätten des Landes. Hierbei lassen sich die Erhöhung des Lebensstandards und das Aufkommen eines Bewusstsein, das typisch für Angehörige des Mittelstands ist, leicht nutzbar machen: Dem Wohlstandschinesen mag es leichter eingängig sein, dass leere Plastikflaschen und abgenagte Maiskolben der geheimnisvollen Atmosphäre am heiligen Berg Taishan abträglich ist.

Der geneigte Leser meldet Zweifel an? Er könnte damit Recht haben! Chinesische Fluggesellschaften bieten ihren Passagieren nicht einmal einen von dritter Seite offerierten Emissionsausgleich an, angeblich, weil es dafür keine Nachfrage gäbe. Die Masse von Chinas Aufsteigern hat das Fahrrad längst im Heimatdorf oder auf dem Universitätscampus zurückgelassen, weswegen es sich selbst auf einem schicken Single-Speed nicht den tödlichen Gefahren auf dem verkehrsreichen Weg zur Arbeit aussetzen möchte.

Der Weg wird steinig sein, wie immer, wenn es um den Umbau einer Gesellschaft geht. Die Vereinigten Staaten haben bis heute nicht wirklich das metrische System übernommen, und die meisten entwickelten Industriestaaten stehen der fälligen Korrektur ihres Anspruchsdenkens und ihren demographischen Probleme hilflos gegenüber. Ich kann keine Lösungen offerieren, es geht mir nur darum, den Ernst der Lage aufzuzeigen. Vielleicht kann das ja eine neue Perspektive liefern.

Der Autor ist Amerikaner und unterrichtet Philosophie an der Tsinghua Universität in Beijing

Quelle: Beijing Rundschau

Druckversion | Artikel versenden | Kommentar | Leserbrief | zu Favoriten hinzufügen | Korrektur

Kommentar schreiben
Kommentar
Ihr Name
Kommentare
Keine Kommentare.
mehr