Shanghaier Ghetto: Ein jüdischer Zeitzeuge erzählt Exklusiv

07.12.2016
 

 

Shanghai um 1939

Was ist Ihnen von der Kriegszeit in Erinnerung geblieben?

Mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges erlosch das Geschäftsleben in Shanghai. Es kamen keine Schiffe mehr, der internationale Warenhandel war tot. Am 17. Juni 1945 flogen die USA einen Luftangriff auf das Ghetto. Sie wollten die Radiostation in Hongkou treffen. Das Ziel lag auf meinem Heimweg von der Schule. Nur weil ich dieses Mal nicht getrödelt hatte und schon zu Hause war, hat es mich nicht erwischt. Die Amerikaner haben das äußerst clever gemacht: Im Sommer kam mittags in Shanghai meist ein Gewitter auf. Sie flogen oberhalb der Gewitterwolke und kamen plötzlich aus der Wolke herunter. Es war ein Mordsgebrumm in der Luft. Danach lagen überall Verletzte und Leichen. Sofort kamen Ärzte angerannt. Meine Mutter wurde gerufen, weil sie gelernte Röntgenassistentin war. Die Emigranten gaben ihr Tischdecken und Betttücher für Bandagen. Für mich war erschütternd, die verletzten Menschen auf der Straße aufgereiht zu sehen. Die Helfer mussten auswählen: Wem kann man noch helfen, wem nicht mehr?

Haben Sie weitere Angriffe erlebt?

Danach gab es jeden zweiten Tag Angriffe, aber nicht auf Hongkou. Bei Fliegeralarm versammelten wir uns im Erdgeschoss unseres Hauses. Wir Kinder mussten unter den Küchentisch kriechen.

Wie ging es weiter?

Nach dem Krieg, 1946 bis Herbst 1948, normalisierten sich das Leben und der Handel in Shanghai. Die Emigranten gingen zurück in ihre Heimat. Es gab in diesem Zeitraum drei große Ausreiseströme, einer nach Europa, einer in die USA und einer nach Australien. Es blieben nur diejenigen, die nicht gehen wollten, zum Beispiel, weil sie mit einer Chinesin oder einem Chinesen verheiratet waren, oder die nicht konnten, weil sie noch Geschäfte abzuwickeln hatten.

Der Anstecker den ein Jude beim Verlassen des Ghettos tragen musste

 

Und ihre Familie?

Mein Vater wurde im April 1946 Leiter des American Jewish Joint Distribution Committees (AJJDC), eine Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden, zuständig für die Versorgung der 20.000 jüdischen Flüchtlinge in der Stadt. Mitte des Jahres 1948 gewannen die Kommunisten den Krieg gegen die Kuomintang, und im Mai 1949 marschierte die Rote Armee in Shanghai ein. Die Kuomintang blockierte daraufhin den Hafen von Shanghai, und wieder kamen keine Schiffe mehr. Mein Vater hatte die Aufgabe, die verbliebenen 1.500 Juden des Ghettos aus China wegzubringen. Darunter waren Patienten aus der Nervenklinik, dem Tuberkulose-Heim und dem Altersheim.

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