Thukydides-Falle: Eine gefährliche Simplifizierung

22.06.2017

Politikwissenschaftliche Theoriegebilde zur „Thukydides-Falle“, einem „Sicherheitsdilemma“ oder „Machtübergang“, bewegen sich zwischen gefährlicher Vereinfachung und selbst erfüllender Prophezeiung. Amitav Acharya kontert.

Der Ausdruck Thukydides-Falle beschreibt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen einer aufsteigenden sowie einer aktuell dominierenden Macht und wird häufig zur Charakterisierung der Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten verwendet. Ein renommierter Wissenschaftler bleibt skeptisch und hat darauf hingewiesen, dass die Theorie mit Gefahren verbunden ist.

Der Ausdruck Thukydides-Falle, popularisiert von Graham Allison, einem Professor der Harvard Kennedy School, bezieht sich auf eine Theorie, wonach der Aufstieg einer neuen Macht bei der etablierten Macht Ängste verursacht, was schließlich zu Konflikten oder Kriegen führt.

„Sie [die Thukydides-Falle] kann zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Sie ist gefährlich, weil sie anfangen zu denken, dass dieser Teil des Konzepts über irgendeinen analytischen Wert verfügt“, sagte kürzlich Amitav Acharya, ein bemerkenswerter, in Indien geborener kanadischer Forscher im Bereich internationale Beziehungen und Autor des populären Buches „Das Ende der amerikanischen Weltordnung“, in einem Interview mit Xinhua.

Die Idee einer Thukydides-Falle ist „grob vereinfachend und etwas sensationslüstern“, da eine Falle grundsätzlich bedeute, so Acharya, dass keine andere Wahl besteht oder ein Konflikt unvermeidlich ist.

„Daraus würde allerdings folgen, dass weder die Vereinigten Staaten noch China viel tun könnten“, sagte er. Er geht im Gegensatz davon aus, dass abseits der möglichen Existenz von Spannungen, Verdächtigungen oder einem mangelhaften Vertrauen in den Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten, „auch ein bestimmtes Maß an Verständnis vorhanden ist“.

Die während des Gipfeltreffen von China und den Vereinigten Staaten im April etablierten Dialoge bewertete er als „einen guten Schritt“. Er geht davon aus, dass die beiden Länder weiterhin miteinander sprechen und versuchen werden, einen Weg für den Rest der Welt zu finden.

„Die beiden Nationen sind sehr stark voneinander abhängig“, sagte Acharya, und erklärte weiter, dass das China-US-Handelsvolumen bereits eine halbe Billion US-Dollar (etwa 450 Milliarden Euro) erreicht und China mehr als 1,5 Billionen Dollar in US-Staatsanleihen investiert hat.

„Wenn sie in solchen Dimensionen denken, werden sie versuchen, zur Verständigung einen Dialog zu führen, und keinen Krieg beginnen“, sagte der Wissenschaftler.

Eine beachtliche Anzahl von Wissenschaftlern schloss sich Acharyas Sichtweise an und stellte damit die Hypothese einer Thukydides-Falle in Frage.

So hat zum Beispiel Arthur Waldron, Professor für Internationale Beziehungen der Fakultät für Geschichte an der University of Pennsylvania, überzeugend argumentiert, dass hier „keine Thukydides-Falle existiert“.

Die Analogie einer Thukydides-Falle wurde 1914 weltweit verwendet. Acharya hat darauf hingewiesen, dass Allison „einige dieser historischen Analogien sowie manches, was nur am Anfang des 20. Jahrhunderts geschehen ist, zur Konstruktion seiner Argumentation verwendet, um damit seine Theorie der heutigen US-chinesischen Beziehungen zu stützen“.

Es gab bereits Theorien mit ähnlichen Argumentationssträngen, zu einem „Sicherheitsdilemma“ oder einer „Machtübergangstheorie“, die prognostizieren, dass eine aufsteigende und eine bestehende Macht miteinander in Konflikt kommen könnten, sagte Acharya.

Er argumentierte, dass die Welt sich stark verändert hat, weshalb ein Begriff wie die Thukydides-Falle eine falsche Analogie und Art des Missbrauchs der Geschichte darstellt.

Ein wichtiger Grund der Veränderungen, betonte Acharya, ist mit Atomwaffen verbunden. „Atomwaffen sorgen dafür, dass Länder und insbesondere große Mächte einen Kriegseintritt sehr sorgfältig abwägen. Dies ist ein bedeutender Faktor“, sagte er.

Ein zweiter Grund besteht darin, dass sich die Kriegskultur geändert hat. Im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Krieg noch als annehmbares und nützliches Mittel zur Lösung von Problemen betrachtet. „So denkt heute niemand mehr. Weder die Vereinigten Staaten noch die Chinesen fallen in diese Kategorie“, sagte er.

Acharya sagte, dass es 1914 auch sehr wenige europäische oder weltumspannende Institutionen gab, welche die geopolitische Konkurrenz beeinflussten. In Europa gab es damals zum Beispiel nur eine Einrichtung, die „Konzert der Großmächte“ genannt wurde. „Heute gibt es viele internationale Institutionen, die Wege für den Dialog und das Gespräch zur Verfügung stellen“, sagte er.

Die wirtschaftliche Interdependenz ist ein weiterer Aspekt, der zur Unterscheidung der heutigen von der vergangenen Welt beiträgt. Acharya sagte, dass China und die Vereinigten Staaten über ein enormes gemeinsames Interesse hinsichtlich der wirtschaftlichen Stabilität des Gegenübers verfügen, was „die Theorie der Thukydides-Falle nicht berücksichtigt“.

Acharya warnte, dass Akademiker bei der Erstellung von Prognosen eine sehr schlechte Bilanz vorweisen. „Die Menschen müssen die Beschränkungen dieses Konzepts analytisch betrachten und Gefahren der Verwendung solcher Metaphern berücksichtigen“, sagte er.

Diesen Artikel DruckenMerkenSendenFeedback

Quelle: people.cn

Schlagworte: Thukydides-Falle,Theorie