Ferdinand von Schirach in China

„Das Böse in Reinform gibt es nicht“ Exklusiv

21.02.2019

von Felix Lehmann, Beijing


Der deutsche Rechtsanwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach hat am Samstag im Goethe-Institut in Beijing sein Buch Der Fall Collini vorgestellt. China.org.cn hat mit ihm über seinen Roman gesprochen, aber auch über menschliche Schuld und die Bewältigung der Nazizeit.

 

Ferdinand von Schirach stellt im Goethe-Institut Beijing sein Roman Der Fall Collini vor. (Foto: Felix Lehmann)


China.org.cn: Sie machen Ihre erste Reise nach China. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen, was fasziniert Sie?


Ferdinand von Schirach: Das kann ich leider noch nicht genau sagen, weil ich meistens in Hotels oder Interviewräumen bin (lacht). Aber ich bin von der Größe Beijings wahnsinnig beeindruckt. Außer vielleicht Mexico City kenne ich keine Stadt, die eine ähnliche Größe hat. Der Flughafen ist auch toll. Ich habe es noch nie in meinem Leben erlebt, dass das Gepäck so schnell ankam.

 

Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern auch Rechtsanwalt. Wo berühren sich Strafrecht und Belletristik?


Es scheint eine Verbindung zwischen dem Recht und dem Schreiben zu geben, und zwar bereits zu allen Zeiten. Dafür gibt es im Deutschen sogar einen Ausdruck, den des Dichterjuristen. Der erfolgreichste deutsche Schriftsteller, Bernhard Schlink, war zugleich Professor für öffentliches Recht in Bonn. Ich denke, es liegt daran, dass das Recht zu einem bestimmen Denken schult, und dass diese Denkschule dazu führt, dass man anders schreibt. Aber die juristische Sprache und die Literatur sind zwei Pole, die nicht weiter auseinander liegen könnten, und das ist gefährlich. Das Recht verliert seine Glaubwürdigkeit, wenn es nicht mehr verstanden wird. Und deswegen sollte auch die juristische Sprache so klingen, dass man sie versteht und dass Urteile verstanden werden.

 

Und nur so kann man es erklären, dass 1968 ein kleiner Passus in das neue Gesetz über Ordnungswidrigkeiten eingefügt werden konnte, der auf einen Schlag die meisten Nazitäter von Strafe freistellte?

 

Sie haben recht, der war so kompliziert formuliert, dass es niemand verstand, und war dann auch noch in einem harmlos wirkenden Gesetz untergebracht, das mit dem Strafrecht nichts zu tun hatte – dem Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG). Denn beim Strafrecht ist man als Abgeordneter normalerweise vorsichtig, weil es das schärfste Schwert ist, das es in der Justiz gibt. So wurde der Verjährungsskandal ausgelöst. Das Gesetz wurde erarbeitet von Eduard Dreher, der als Staatsanwalt im Dritten Reich für Bagatellen mehrere Todesurteile gefordert hatte. Er wurde als Mitläufer entnazifiziert und machte später Karriere als Beamter im Justizministerium. Dreher formulierte das Gesetz so, dass mit dessen Inkrafttreten der überwiegende Teil der Täter in den Genuss der Verjährung kam und somit straffrei blieb. Der Bundestag ließ das Gesetz ohne Diskussion passieren. Als der Spiegel den Skandal eine Woche später aufdeckte, war die Verjährung nicht mehr rückgängig zu machen. Der Fall Collini ist um diese Geschichte herum konstruiert.

 

Trotz einiger Fehler hat doch nach dem Zweiten Weltkrieg die Entnazifizierung stattgefunden, das Dritte Reich ist Querschnittsthema an vielen Schulen, in Berlin steht seit 2005 das Holocaust-Mahnmal und die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Das klingt doch vorbildlich, könnte man sagen, aber wie bewerten Sie den Stand der Vergangenheitsbewältigung? Was ist versäumt worden, was muss nachgeholt werden?

 

Die zu tolerante Haltung der Nachkriegsjustiz zu den Verbrechen aus der Nazizeit ist auch als die zweite Schuld der Deutschen in die Geschichte eingegangen. Damals war das Personal das gleiche wie in der Nazizeit, es waren also die gleichen Richter, die gleichen Staatsanwälte, die gleichen Anwälte tätig. Schon 1945 galt in der Verwaltung das sogenannte Huckepackverfahren. Das bedeutete, dass ein nicht mit dem Nationalsozialismus belasteter Verwaltungsbeamter einen Belasteten huckepack in die Verwaltung tragen konnte. Am Ende hat ein Unbelasteter zehn Belastete in die Verwaltung eingeschleust. Heute ist es die allgemeine Überzeugung, dass die bundesdeutsche Justiz bei der Bestrafung der Naziverbrecher versagt hat. Trotzdem gibt es keine Periode, die so gründlich und ordentlich aufgearbeitet worden ist, wie die Nazizeit. Nur so konnte die Bundesrepublik werden, was sie ist. Doch immer wieder entdecken Historiker erschreckende Dinge. Der Fall Collini handelt von den Versäumnissen, den Verdrehungen und der falschen Rechtspolitik, die gemacht worden ist. Bereits Ende 1945 sagte Kardinal von Faulhaber, der damalige Erzbischof von München und Freising, es müsse jetzt mal Schluss sein mit der Wiederaufarbeitung. Heute werden Nazitäter zumindest vor Gericht gestellt. Doch die meisten erleben das Ende ihrer Prozesse nicht, denn sie sind 90 oder 95 Jahre alt. Das hätte früher geschehen müssen. Doch trotz allem glaube ich, haben die Deutschen das sehr gut gemacht.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Ferdinand von Schirach,China,Nazi,Justiz,Der Fall Collini