Ferdinand von Schirach in China

„Das Böse in Reinform gibt es nicht“ Exklusiv

21.02.2019

Wie sind Sie auf den Stoff gekommen?

 

Ich hatte erstmals in meinem Studium von dem Thema gehört. In Deutschland fanden 1945 die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher statt. Man kann es nur mit Bewunderung betrachten, dass die Geschichte in so kurzer Zeit aufgearbeitet wurde. Unter den Angeklagten war auch mein eigener Großvater, der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Später wurde die Verfolgung der Kriegsverbrecher auf die BRD übertragen. Doch das Problem bestand darin, dass sich das Personal der Nazis nicht von dem der BRD unterschied. Die gleichen Richter und Anwälte sollten dann über die NS-Täter richten. Die Urteile waren furchtbar milde und manchmal komplett grotesk.


Ferdinand von Schirach (Foto: Ren Bin)

 

Sie sagen, dass es den bösen Menschen nicht gibt, sondern nur die böse Tat. Was ist ihre Definition für das Böse?

 

Wenn ich diese Frage beantworten könnte, müsste ich den Nobelpreis erhalten! In der Philosophie wird dieses Thema schon seit 3000 Jahren diskutiert, und es gibt sicherlich keine Antwort, der alle zustimmen können. Augustinus hat zum Beispiel gesagt, das Böse ist wie ein Loch im Boden. Für Hannah Arendt ist das Böse nicht wie in einem Thriller, wie Hannibal Lecter. Das Böse ist banal und kommt am Schreibtisch zum Vorschein. Adolf Eichmann zum Beispiel tötete 50.000 Menschen durch eine Unterschrift.


In meiner Karriere als Strafverteidiger habe ich nie einen reinen bösen Menschen oder einen reinen guten Menschen gesehen. 80 Prozent der Verbrechen sind Beziehungstaten, werden also von Menschen verübt, die sich kennen. Das Böse tritt meist graduell auf. Stellen Sie sich vor, ein Paar sieht gemeinsam fern. Er will einen Actionfilm sehen, sie eine Varieté-Show. Das Paar beginnt zu streiten, dann schreien sie sich an. Das Anschreien ist schon eine Form der Gewalt. Dann ist der Weg nicht mehr weit, jemanden zu schlagen oder das Messer rauszuholen. Täter berichten mir oft, dass sie sich wie in einem Tunnel gefühlt und keinen Ausweg mehr gesehen haben. Wenn Sie in der Zeitung von einem schrecklichen Mord erfahren, dann denken Sie daran, dass es sich immer noch um Menschen handelt, auch wenn der Täter ein Verbrechen begangen hat. Es ist einfach zu sagen, der Täter verdiene es nicht, zu leben, aber viele Taten haben eine lange Geschichte. Vor ein paar hundert Jahren hatten wir noch ein Tatstrafrecht, es kam damals nur auf die Tat an, nicht auf den Menschen. Damals sagte man, wenn einer einen Apfel gestohlen hat, dann muss die Hand, mit der der Diebstahl ausgeführt wurde, abgeschnitten werden. Heute fragen wir nach dem Grund für die Tat. Vielleicht hatte der Dieb Hunger, vielleicht war ihm der Apfel zuvor von jemand anderem gestohlen worden, vielleicht war der Täter krank. Wir verurteilen Menschen nur nach seiner individuellen Schuld, und das ist ein Fortschritt in der Entwicklung des Rechts, der durch die Geschichte der europäischen Aufklärung entstanden ist.


Die meisten Verbrechen mit denen ich zu tun hatte, entstehen aus Verzweiflung. Es gibt böse Taten und gute Taten, aber man kann nicht sagen, dass die menschliche Natur böse ist. Und böse Taten ändern auch nichts an der Würde des Menschen. Außerdem ist es der Mensch, den ein Rechtsanwalt verteidigt, und nicht die Tat.


Sie beschreiben in ihrem Werk Rechtsanwalt Leinen, der akribisch und gewissenhaft nach dem Tatmotiv seines Mandanten sucht, obwohl der gar nicht kooperieren will. Am Ende gelingt Leinen dann die spektakuläre Wende im Prozess, der Täter scheint moralisch rehabilitiert, das Opfer steht als Kriegsverbrecher am Pranger. Sieht so die Realität in deutschen Gerichtssälen aus?

 

Nein, das ist natürlich ein fiktiver Fall, aber es passiert auch in großen Strafprozessen immer wieder,dass man eine Umkehrung der Positionen hat. Ich stimme Ihnen auch nur insofern zu, dass Collini moralisch gerechtfertigt ist, nicht juristisch. Das Buch ist kein Aufruf zur Selbstjustiz. Was eine Rolle spielt, ist die Frage, in wieweit Menschen sich auch nach falschen Gesetzen richten müssen. In den Nürnberger Prozessen ist erstmals entschieden worden, dass ein gegen die Grundrechte verstoßendes Gesetz oder Befehl nicht befolgt werden darf, dass man sich damit sogar strafbar machen kann, zum Beispiel, wenn man auf Menschen schießt, die friedlich demonstrieren. Aber das ist ein ganz extremer Ausnahmefall. Wir müssen uns an die Gesetze halten und ein Gesetz verdient Beachtung.

 

Ist Caspar Leinen auch eine Verkörperung von Ihnen selbst?


Ja, ich habe zwei Bücher verfasst, Collini und Tabu, das noch nicht auf Chinesisch übersetzt ist, und beide sind in gewissem Maße eine Verkörperung von mir selbst. 

 

Aus welchem Grund schweigt Collini zu seinem Motiv, hat er das Vertrauen in die Justiz verloren?

 

Nach dem Buch ganz sicher. Er hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Gerechtigkeit zu bekommen, und das entspricht auch der Wirklichkeit. Es gibt immer Angeklagte, die wollen schweigen, aus Scham, aus Schuldgefühlen oder aus ganz anderen Gründen. Das ist nichts vollkommen Ungewöhnliches.


Der Fall Collini soll im April in die Kinos kommen, hatten Sie Einfluss auf die Produktion des Films?


Nein, darauf nehme ich grundsätzlich keinen Einfluss. Aus meinen Stoffen sind ja mittlerweile 30 Filme entstanden. Der Film ist eine andere Kunstform und ich finde es ein bisschen lächerlich, wenn da ein Schriftsteller rumläuft und Anweisungen gibt. Ich habe den Film gesehen. Er ist wirklich beeindruckend und hervorragend geworden. Der Hauptdarsteller ist Elyas M’Barek, ein Mann, den man eigentlich nur aus Komödien kannte. Doch als ich ihn auf der Leinwand gesehen habe, war ich sehr beeindruckt von seiner Präsenz und Ernsthaftigkeit. Es spielen auch tolle Schauspieler mit, Franco Nero zum Beispiel, ein alter Italiener, der in den 60er-Jahren in allen Django-Filmen mitgespielt hat. Allein sein Gesicht ist unglaublich. Es ist ein berührender Film. Er macht Kompromisse, das muss ein Film ja auch, aber das ist für mich vollkommen in Ordnung、

 

Vielen Dank für das Gespräch! 


Die Fragen stellte Felix Lehmann. Einzelne Fragen stellte Ren Bin.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Ferdinand von Schirach,China,Nazi,Justiz,Der Fall Collini