70 Jahre Autonomes Gebiet Tibet

Tibets Reichtum für China und die Welt Exklusiv

19.05.2021


Der Potala-Palast in Lhasa, Hauptstadt des Tibetischen Autonomen Gebiets (Foto: Liu Dongjun/ Xinhua)


von Ole Döring

 

Vor 70 Jahren wurde das "Abkommen der Zentralregierung und der lokalen Regierung Tibets über Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets" unter dem ehemaligen chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai geschlossen. Mit diesem auch als "17-Artikel-Abkommen" bekannten Akt erkannten die Delegierten Tibets die Souveränität der VR China an und erhielten ihrerseits Autonomie für ihr Land. Diese Konstellation hat sich bis heute lebendig weiterentwickelt. Während des Kalten Krieges wurde Tibet immer wieder ideologisch instrumentalisiert. Im Jahre 2021 spielt Tibet eine wichtige Rolle als einzigartiger Lebensraum zwischen Himmel und Erde.

 

Den meisten Menschen wird es auf dem über 4000 Meter aufsteigenden Gebiet Tibets schwindelig. Mit Geduld gewinnt man Orientierung, Luft zum Atmen und festen Halt. Die am höchsten gelegene besiedelte Region der Welt ist kulturell ebenso altehrwürdig wie offen für Neues. Der Blick von Tibet eröffnet Horizonte, die uns alle angehen, gerade weil die Perspektive ungewohnt ist. Wie lässt sich das wertvolle Wissen der alten Welt mit dem Wert der neuen digitalen Wirtschaft zusammenbringen, die auf Big Data, Cloud Computing und künstliche Intelligenz setzt?

 

Vielfalt und Weite sind Schlüsselbegriffe für die Bedeutung Tibets. Zugleich zieht das "Dach der Welt" Kraft aus der Ruhe seiner geographischen Gegebenheiten. Tibet erweitert die Diversität Chinas und der Welt um eine einzigartige natürliche, geologische und kulturelle Komposition. In Tibet erwachen alle elementaren Kräfte aus ihrer Ruhe. Die Lebensbedingungen erinnern uns an Grundlegendes: an unsere Abhängigkeit vom sensiblen Gleichgewicht der Ökologie und daran, in größeren Zeiträumen, Verbindungen und Proportionen zu denken. Was hier beginnt, hat langfristige Folgen. Besonders der globale Temperatur- und Wasserhaushalt beeinflusst zusammen mit Windströmen das Klima weit über Süd- und Ostasien hinaus. Seine gewaltigen Gletscher machen Tibet zum "Dritten Pol" der Erde. Hier liegt die geologische Nahtstelle zwischen Eurasien und Indo-Australien, an der es nicht nur zu physischen Reibungen kommt. Die Region ist ebenso reizvoll wie schwer zu erschließen. Die besondere geostrategische Lage und der Reichtum der oft schwer zugänglichen Ressourcen verlangen besonderes Augenmaß.

 

6,2 Millionen Tibeter leben in China, darunter nach dem sechsten Zensus vom Jahr 2010 3,5 Millionen auf den 1,2 Millionen Quadratkilometern des Autonomen Gebiets Tibet. Hier wächst Chinas Bevölkerung besonders schnell. Nach der Sechsten Volkszählung gab es in Tibet 50 ethnische Gruppen, zirka 90,5 Prozent davon Tibeter. Die Han-Bevölkerung hat einen Anteil von 8,17 Prozent, andere Gruppen 1,35 Prozent. Davon sind 14 offiziell einer ethnischen Gruppe zugeordnet. Kulturell ist Tibetisch die wichtigste, gesellschaftlich Chinesisch die Standard-Sprache. Beide Dimensionen begegnen sich in sozialen Räumen, namentlich in öffentlichen allgemein bildenden Schulen und im Internet. Hier treffen Interessen auf einander, die offenbar reibungsloser ausgeglichen werden als früher: der Staat organisiert Zugang zum Arbeitsmarkt auch mittels sprachlicher Standardisierung, während Tibetisch die Verbundenheit mit den Wurzeln der Wertschöpfung zum Ausdruck bringt.

 

Die alpine Agrargesellschaft prägt das tibetische Wirtschaftsleben dauerhaft, wird allerdings durch einen hochmodernen Kontrapunkt ergänzt. Nach Angaben der Regionalregierung erreichte Tibets Bruttoinlandsprodukt 2020 mehr als 190 Milliarden Yuan: ein Zuwachs von 7,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. China baut in Tibet "weiße" Industrien im großen Stil auf. Sie fügen sich mit ihrer leichten Infrastruktur besser an die Gegebenheiten der Region als Schwerindustrie. Sie basieren vor allem auf Informationstechnologie, werden von akademischen Berufen vorangetrieben und gelten als Ressourcen schonend. So kommt es, dass einerseits der im Hochland endemische Tibetische Raupenpilz als traditioneller Heilpilz immer noch einen großen Anteil des ländlichen Geldeinkommens in Tibet einbringt, andererseits eine digitale Schaltzentrale der Neuen Seidenstraße entsteht, die neue soziale Dynamiken nach sich ziehen wird. Die Spannungen der unterschiedlichen Lebensweisen unserer modernen Welt liegen in Tibet besonders deutlich auf der Hand.

 

Die extremen natürlichen Bedingungen sollen jetzt zur Tugend gemacht werden. Selbst durch die groß angelegte Einbindung in Chinas Eisenbahnnetz kann Tibet nicht mit den bequemeren Regionen Chinas konkurrieren. Tibets ungünstige Verkehrsinfrastruktur steht aber dem Ausbau einer digitalen Wirtschaft nicht im Wege. Die niedrigen Durchschnittstemperaturen, saubere Luft und reichlich erneuerbare Energien sind gute Voraussetzungen für den Betrieb von Rechenzentren für große Datenmengen und deutlich billiger als in wärmeren Regionen. Diese Dienstleistungen der Informationsindustrie verursachen relativ geringe Kosten und setzen weniger Technologie voraus. Tibet hat bereits eine Kommunikationsinfrastruktur aufgebaut, die sich nicht auf Telefonie beschränkt, sondern den gesamten Bereich von E-Commerce, Big Data und Cloud Computing umfasst. Tibet hat 2020 33 Milliarden Yuan aus seiner digitalen Industrie gewonnen, ein Jahresplus von 20 Prozent. Die Zahl der Digital-Unternehmen überstieg im Januar 2021 30.000. Jetzt baut China das weltweit höchstgelegene Cloud-Computing-Zentrum. Es soll den Datenspeicherbedarf des Landes und regionaler Staaten wie Nepal, Bangladesch und Pakistan decken. Das neue Rechenzentrum liegt auf einer Höhe von rund 3650 Metern in einer Hightech-Zone bei Lhasa. Geplant sind Gesamtinvestition von 11,8 Milliarden Yuan. Es soll Dienstleistungen für Anwendungen wie Video-Bearbeitung, autonomes Fahren und Datensicherung ermöglichen.

 

Wichtige Kennzahlen deuten auf eine im Großen und Ganzen gesunde Entwicklung. Die Lebenserwartung ist auf insgesamt 71,1 Jahre gestiegen. Die Tendenz der Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Generationen macht Mut für die Zukunft: 67 Arbeitsfähige unterhalten nur noch acht Menschen über 65 und 25 Kinder unter 15 Jahren. Soziale Grundsicherung, Bildungssystem und medizinische Versorgung werden stetig aufgebaut.

 

In der Entwicklung Tibets liegen Herausforderungen und Chancen eng bei einander. Je höher der Grad an Bildung, Gesundheit, Wohlstand, desto besser die Voraussetzungen für ein Mikromanagement, das sozialen Frieden schafft und globale Zusammenarbeit stabilisiert. In diesem spannungsreichen Boden wachsen Impulse für eine zukünftige postindustrielle Gesellschaft, um grüne (ökologische), weiße (leichte) und rote (gesunde) Kompetenzen gerecht zu organisieren. Tibets soziale und ökologische Gesundheit ist ein Gradmesser für die Zukunftsfähigkeit unseres Planeten, Ruhepol, Kraftquelle und Orientierungspunkt für die gesamte Welt. Diese erhabene Majestät ist zugleich äußerst sensibel. Wünschen wir den Verantwortlichen zum 70. Jahrestag Klugheit und eine leichte Hand!

 

Der Autor ist habilitierter Philosoph und Sinologe.  Er lebt und arbeitet zwischen Berlin und China an der Verständigung der Kulturen. Zuletzt hat er die Bildungseinrichtung „Europäisches Zentrum für chinesisches Denken“ mitbegründet. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Tibet,China,Reform,Industrie,70 Jahre