Die deutschen Parteien haben den Pragmatismus verlernt exklusiv

24.11.2017

von Felix Lehmann


Deutschlands politische Zukunft ist weiter ungewiss. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen in der vergangenen Woche muss sich Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel nach einer neuen Regierungsmehrheit umsehen. Keine leichte Aufgabe in einem Parlament, dem sieben verschiedene Parteien angehören.

 

Bundeskanzlerin Angela Merkel äußert am 20. November ihr Bedauern über den Rückzug der FDP von den Jamaika-Verhandlungen.


In den vergangenen zwölf Jahren der Ära Merkel haben die Parteien verlernt, konstruktiv und lösungsorientiert miteinander zu streiten. Der politische Opportunismus Merkels, die eigene Haltung stets an dem auszurichten, was den größtmöglichen Konsens verspricht, mag dazu beigetragen haben. Dies ließ Deutschland viele Jahre lang als stabilen und berechenbaren Partner in der Welt erscheinen. Angesichts der Krisen, die das Land unter Führung Merkels meistern musste – Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise, Kriege im Nahen Osten, Flüchtlingsströme gen Europa, die Situation in der Ukraine – war das für Deutschland sicherlich von Vorteil.

 

Doch Politik lebt von Dissens, konstruktivem Streit und der zugespitzten Betonung von Differenzen im politischen Wettstreit. Merkels Politikstil hat auch dazu geführt, dass Deutschland keine ehrlichen und offenen Debatten mehr gewohnt ist. Mittlerweile empfinden Manche die Sichtbarmachung von Unterschieden in der politischen Werteorientierung als Ausdruck einer Profilneurose.

 

Das ist der Grund, warum Parteien wie die FDP und die AfD bei der Bundestagswahl im September mit überraschend guten Ergebnissen abschnitten. Dass es zu Gesprächen über eine Jamaika-Koalition kommen würde, lag auf der Hand.  In den vergangenen Jahren haben sich die Fronten zwischen den Parteien verhärtet, denn siefokussieren zu stark auf ihre jeweiligen Wählermilieus, denen sie Enttäuschungen ersparen wollen. Der Verlauf der Sondierungsgespräche legt ein Zeugnis davon ab: Vor allem CSU, FDP und Grüne mühten sich, möglichst viele „rote Linien“ einzuzeichnen und Maximalforderungen aufzustellen, noch bevor ernsthafte Verhandlungen überhaupt begonnen hatten. Die FDP sorgte sich um ihre Wählerbasis, denn sie weiß nach dem desaströsen Ausscheiden aus dem Bundestag im Herbst 2013, was für sie auf dem Spiel steht. Auch die Grünen haben Angst vor den eigenen Wählern, die insbesondere gegenüber der liberalen Wirtschaftspolitik und christsozialen Flüchtlingspolitik sehr kritisch eingestellt sind. Die CSU ging wegen ihrer kompromisslos vorgetragenen Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge eine hohe Hypothek ein, die sie nun erfüllen zu müssen glaubte.

Bei unklaren Machtverhältnissen kommt dem Bundespräsidenten eine wichtige Funktion zu: Er muss politische Orientierung geben Und Frank-Walter Steinmeier nimmt seinen Job ernst. Er verdonnerte die Parteien zu weiteren Verhandlungen. Denn mit einer Auflösung des Bundestages und anschließenden Neuwahlen würde der Wählerwille einer politischen Taktik geopfert, und es ist keineswegs ausgemacht, dass Neuwahlen für klare Mehrheitsverhältnisse sorgen würden.

 

Eine Große Koalition erscheint nun als einzige naheliegende Lösung für das Land. Doch damit sind die Probleme der Regierungsbildung noch nicht gelöst, denn das deutsche Parteiensystem steht nun vor entscheidenden Umbrüchen. Die Vorhersehbarkeit künftiger Koalitionsbündnisse ist durch das Sieben-Parteien-Parlament ein gutes Stück verlorengegangen. Das erfordert ein Umdenken: Die Parteien müssen bereit sein, mit Partnern zu regieren, die der eigenen Weltanschauung ablehnend gegenüberstehen. Es ist Zeit, darüber nachzudenken, auch mit populistischen Randparteien wie AfD und Linksparteiüber eine Regierungsbildung zu  sprechen, und sei es nur über die Tolerierung einer Minderheitsregierung. In einem politischen System, in dem die ideologische Abgrenzung der jeweiligen Akteure voneinander immer stärker zunimmt, tut Kompromissbereitschaft Not. Ansonsten kann Demokratie nicht funktionieren.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Jamaika,Angela Merkel,FDP,Grüne