Ein Kommentar zum ausgehenden 13.
China bereitet den nächsten Fünfjahresplan vor Exklusiv
Von Ole Döring, Berlin
Als China den nun zu Ende gehenden 13. Fünfjahresplan (2016-2020) auf den Weg brachte, war die Welt eine andere als heute. Das Jahr 2015 war global das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen1880. Klima-Themen bestimmten die Diskussionen der Welt- und Industriepolitik. Seit 2014 breitete sich von Westafrika her die Ebola-Seuche immer weiter aus. 2016 rückten die Nachhaltigkeitsziele der vereinten Nationen die Globale Gesundheit weiter ins Zentrum. Bei all diesen Themen spielte China eine wichtige Rolle.
2016 begann nach Ansicht internationaler Beobachter „der wichtigste Fünfjahresplan aller Zeiten“. Bis dahin konnte China sich von anderen Ländern inspirieren lassen. Für das neue Niveau, das China bis 2015 erreicht hatte, gab es keine großen Vorbilder mehr. Die Planer mussten nun eigene Visionen in Modelle umsetzen. „Wenn der 13. Fünfjahresplan erfolgreich umgesetzt wird, kann er China weltweit führend positionieren“, hieß es deshalb.
Die Zhuhai-Hongkong-Macao-Brücke (Foto von VCG)
„Unser Ziel ist, dass alle Chinesen ein besseres Leben führen können“, hatte Chinas Staatspräsident Xi Jinping auf dem Imperial Springs International Forum 2017 unterstrichen. Nachdem er 2018 erneut zum Staatspräsidenten gewählt worden war, forderte Xi alle Beamten dazu auf, dem Volk die höchste Priorität einzuräumen. Das Volk steht im Vordergrund – diese Aussage ist kein einfacher Slogan, was durch die immer besseren Lebensbedingungen deutlich wird. Die Aussicht auf „bescheidenen Wohlstand“ und größere Teilhabe an sozialen Gütern geht für immer mehr Menschen auf. Die Löhne in China sind stetig gestiegen. Investitionen erfolgen weniger wegen der kostengünstigen Produktionsbasis als mit Blick auf die Qualität der Produktion. Man darf nicht nur auf den, in China wie anderswo gelegentlich obszönen, Reichtum Einzelner hinweisen, sondern sollte zugleich die moralische Botschaft hören, die im Guten der Bescheidenheit liegt. Wenn die Ökonomie nicht allein materiellen Werten dient, kann sie eine kulturelle Evolution bewirken. Chinas Gesellschaft hat sich neue Freiheitsräume erarbeitet. Es geht um das rechte Maß, nicht um Einschränkung, sondern um Sinn für den Wert des Zwecklosen, des Nutzlosen, des Schönen, Wahren und Guten - die das Leben sowohl lebenswert als auch würdig machen. In diese Richtung weist auch das Engagement von immer mehr - besonders jungen Chinesen, für karitative, gemeinnützige, kulturelle und humanistische Zwecke. So viele und so vielfältig qualifizierte Kompetenzen hat China noch nie zuvor gehabt.
Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass die Länder, die sich bis dahin in wichtigen Fragen als Chinas Lehrer ansehen konnten, nun ihre Haltung der Überlegenheit anpassen müssen. Nicht alle sind dazu bereit. Die Gewichtung der großen Themen mag sich in diesen fünf Jahren nur leicht verschoben haben. Dennoch haben die Wucht und Deutlichkeit des chinesischen Fortschritts eine neue Qualitätsstufe erreicht. Während China sich zu Hause konsolidiert, spitzen sich die internationalen Kämpfe um Macht und Deutungshoheit krisenhaft zu. Zusammenarbeit ist wichtiger als je zuvor.
Die Strategie hinter dem 13. Plan, die sich im 14. höchst wahrscheinlich fortsetzen wird, entstammt einer sachlichen Analyse: was braucht die Welt aus chinesischer Sicht, um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Die Antworten haben sowohl mit den Erfolgen als auch mit dem Misslingen zu tun, die Planer tasten sich umsichtig voran. China muss nicht nur wie bisher seine innere und globale Modernisierung voranbringen, es muss dies heute auch weitgehend auf sich selbst gestellt schaffen. Das Angebot der BRI wird fast ausschließlich von Ländern angenommen, die sich davon Hilfe zur Entwicklung versprechen. Heute müssen sich jedoch auch die Mächte des 20. Jahrhunderts weiterentwickeln.
In Verbindung mit dem Narrativ der „Gemeinschaft der Menschheit mit geteilter Zukunft“ (人类命运共同体) versucht China in seinen Außenbeziehungen eine schlüssige Geschichte davon zu erzählen, worum es dabei geht. Dies wird aber nicht überall geteilt. Darauf hat jüngst eines der wichtigsten deutschen Institute für Politikforschung, die Stiftung Wissenschaft und Politik, hingewiesen: „Deutsche und europäische Akteure benötigen ein tiefergehendes Verständnis der chinesischen Handlungslogik.“
Es ist eine nüchterne Feststellung, dass die Länder mit China auf Augenhöhe zusammenarbeiten könnten, weil sie stark und wohlhabend genug dafür sind. Jedoch haben sie sich entschieden, ihre Kompetenzen auf andere Ziele zu richten: auf Schutz oder Restauration alter Ordnungen des 20. Jahrhunderts, Aufrüstung für einen „Kampf der Systeme“, oder auf die „Entkoppelung“ der globalen Wirtschaft. Es fällt diesen politischen Meinungsführern schwer, den Charakter des lernenden Systems zu erfassen. Das Zusammenwirken von Flexibilität, Entschlossenheit und Qualitätssteigerung wird noch nicht überall verstanden. Die Tatsachen sprechen eine eigene Sprache. Trotz der politischen Rhetorik aus Washington stiegen die US-Investitionen in China in den ersten sechs Monaten 2020 um sechs Prozent im Jahresvergleich.
Zugleich läuft die Entfremdung wirtschaftlicher Akteure von gesellschaftlicher Regulation überall auf eine Schwächung der kulturellen Bindung an immaterielle Werte und soziale Güter wie Menschlichkeit, Solidarität, Gesundheit und Frieden für die weltweite Zivilisation hinaus. Die Wirtschaft ist weltweit stark mit der Technologie-Entwicklung, mit der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens und Denkens verflochten. Zugleich ist ihre Rechts- und Vertrauensbasis von der Legitimation und den Kompetenzen abhängig, die traditionell von Staaten organisiert werden. Angesichts der Macht von Unternehmen wie Google oder Alibaba müssen wir gemeinsam über neue Formen der wirksamen Verknüpfung von Ökonomie und Politik nachdenken. Die Regulation können wir nicht Amazon & Co. überlassen. Auch hier bietet Chinas Weg interessante Ansätze für gemeinsames Lernen.
Von 2015 her betrachtet, darf der 13. Fünfjahresplan als Erfolg gesehen werden. Aus der Sicht von 2020 steht das Land neuen Herausforderungen gegenüber. „Globale Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und Politik befinden sich alle in einer Zeit des Wandels. Die Welt ist in eine instabile und revolutionäre Periode eingetreten", sagte Xi Jinping aus Anlass des 40-jährigen Bestehens der Sonderwirtschaftszone Shenzhen. „Wir stehen an der Schwelle zu beispiellosen Veränderungen in diesem Jahrhundert, und wir müssen einen Weg in Richtung Selbständigkeit einschlagen. Das bedeutet, dass wir in unserer Innovations-Entwicklung unabhängig werden müssen“.
Trumps Handelskrieg und Covid-19 werden den langfristigen Trend der Umgestaltung der Lieferketten und Logistikstrukturen beschleunigen. Damit können im Zuge der neuen Technologie-Infrastrukturen weitere Impulse für Innovation einhergehen, die den Vorsprung Chinas noch vergrößern. Das betrifft besonders Zukunftsfelder wie grüne Stadtentwicklung, nachhaltige Energie und Bio-IT mit „künstlicher Intelligenz“. Zugleich nimmt der Grad der Unabhängigkeit der Unternehmen von politischen Faktoren zu. Jede Maßnahme, die gegen eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Europa und China gerichtet ist, kann also nicht nur die eigene Wirtschaftskraft schwächen, sondern auch die fortschreitende „Entkopplung“ weltweit agierender Unternehmen von gemeinsamen ethischen, rechtlichen und sozialen Standards befördern.
Was die internationale Zusammenarbeit angeht, sollte nun die Kulturdiplomatie als Ressource erschlossen werden. Vermeidbare Missverständnisse in der politischen Terminologie, Räume und Anlässe zu Begegnung und Lernen, Konfliktvermeidung und gegenseitiger Respekt: Diese Voraussetzungen kultivierter Diplomatie sind noch nicht geschaffen. Hier hängt alles von allen ab. China kann dabei eine moderierende Rolle einnehmen, wenn es gelingt, eine global tragfähige Vertrauensbasis aufzubauen. Alle Beteiligten werden sich auch ihrer geisteswissenschaftlichen Kompetenzen erinnern, die dafür unverzichtbar sind aber zu lange vernachlässigt wurden. Im Mai 2019 hielt China die Asiatische Zivilisationsdialogkonferenz (CDAC) ab. Dabei interpretierte Xi Jinping die Beziehungen unter verschiedenen asiatischen Kulturen sowie zwischen asiatischen und anderen Kulturen der Welt. Er leitete daraus Vorschläge ab, wie die Kulturen den Aufbau Asiens und einer Gemeinschaft der Menschheit mit geteilter Zukunft fördern können.
In Erinnerung an Deng Xiaoping fordert Xi nun: „Wir müssen mehr politischen Mut und mehr Weisheit haben und das ‚Überqueren des Flusses durch das Erfühlen der Steine‘ mit einer verstärkten Zusammenarbeit der oberen und unteren Ebenen kombinieren, um die Reformen in wichtigen Bereichen stetig zu vertiefen.“
Stärke und Wandel, Wachstum und Gesundheit, Kultur und Offenheit, Sicherheit und Vertrauen - die Spannung zwischen diesen Bereichen und den nach wie vor großen Anstrengungen, die für Gerechtigkeit, wachsende Teilhabe, einen Umgang mit unserer inneren und äußeren Natur zu leisten sind, unterstreicht wie wenig Anlass China hat nachzulassen. Dementsprechend geht es im kommenden 14. Fünfjahresplan darum, Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit noch stärker zu verwurzeln und mit internationalen Partnern gemeinsam zu entwickeln.
Man muss zugeben, dass dies große Herausforderungen sind. China hat mit Geduld und Verständnis schon größere Herausforderungen bewältigt als die Mischung aus Arroganz und Larmoyanz des alten Westens. Jeder Schritt in die Zukunft spricht für sich.
Der Autor ist habilitierter Philosoph und Sinologe. Er lebt und arbeitet zwischen Berlin und China an der Verständigung der Kulturen. Zuletzt hat er die Bildungseinrichtung „Europäisches Zentrum für chinesisches Denken“ mitbegründet. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.