Experten warnen vor Impfstoffmangel in Indien
In den kommenden Wochen könnte es nach einem glänzenden Start zu Einbrüchen bei der landesweiten Impfkampagne kommen, wenn es nicht gelänge, auch das Hinterland zu erreichen und Engpässe bei der Bereitstellung von Impfdosen in den Griff zu bekommen, warnten indische Experten am Dienstag.
Die am Montag verabreichten 8,6 Millionen Dosen stellten einen neuen Rekord auf, da nun für alle Erwachsenen die Impfung freigegeben sei und nicht nur für die Altersgruppe der 18- bis 44-Jährigen. Bislang oblag die Impfung den einzelnen Bundesstaaten und Krankenhäusern, nun wird sie vom Bund organisiert. „Diese Zahl ist sicherlich nicht aufrechtzuerhalten", meinte Chandrakant Lahariya, Experte für öffentliche Gesundheitssysteme gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
„Mit den gegenwärtig für die kommenden Monate eingeplanten Vorräten an Impfstoffen wird man bestenfalls vier bis fünf Millionen Impfungen am Tag durchführen können."
Die Impfkampagne im Land mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt hat bislang lediglich 5,5 Prozent der für eine Impfung geeigneten 950 Millionen Menschen erreicht, und dies, obwohl Indien der Welt größter Hersteller von Impfstoffen ist.
Eine verheerende zweite Infektionswelle ist im April und Mai über das Land gegangen, und hat das Gesundheitswesen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Hunderttausende Menschen sind gestorben und Bilder von Scheiterhaufen zur Verbrennung der Leichen auf Parkplätzen und öffentlichen Freiflächen gingen um die Welt und weckten Zweifel über den Fortgang der Impfaktivitäten.
Seit Mai wurden in Indien im Durchschnitt weniger als drei Millionen Impfdosen am Tag verabreicht, was nach Auffassung der zehn Millionen Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen viel weniger sei, als erforderlich wäre, um besonders anfällige Personenkreise vor neuen Ansteckungswellen zu schützen. Besonders auf dem Land, wo zwei Drittel der rund 1,4 Milliarden Inder lebten, und das Gesundheitssystem oft überlastet sei, ist nach Meinung von Experten die Kampagne ins Stocken geraten.
Die Geschwindigkeit der Impfkampagne aufrechtzuerhalten, werde sich vor allem dann als schwierig erweisen, wenn es darum gehe, die jüngere Bevölkerung in „unterversorgten" Gebieten mit Impfstoffen zu erreichen, sagte der Epidemiologe Rajib Dasgupta aus Neu-Delhi.
Ein weitverbreiteter Mangel an Impfstoffen hat seit Mai den Unterschied zwischen Stadt und Land weiter verschärft. Viele jüngere Menschen haben sich in den Städten an privat betriebene Krankenhäuser gewandt, um sich möglichst rasch zu Preisen zwischen neun und 24 US-Dollar pro Impfdose gegen das Virus impfen zu lassen.
Derartige regionale Lücken in der Gesundheitsversorgung verschlimmerten sich noch, solange unter anderem keine umfassenden statistischen Daten über Impfungen zugänglich gemacht würden, sagte Bhramar Mukherjee, Professor für Epidemiologie an der University of Michigan.
Nach offiziellen Angaben der Stadtverwaltung von Neu-Delhi müssten noch mehr als acht Millionen Einwohner der Metropole die Erstimpfung erhalten. Wenn man in dem gegenwärtigen Tempo fortfahre, würde es noch länger als ein Jahr dauern, bis alle Erwachsenen in der Stadt geimpft sein würden. Mittlerweile ist landesweit die Zahl der Neuinfektionen auf den tiefsten Stand seit drei Monaten gesunken.