Kommentar
China stabilisiert den Kurs der Selbststärkung durch Lernen Exklusiv
China vollzieht einen Übergang: ausgehend von der zentral gesteuerten Ordnung durch Technologien der Macht-, Sozial- und Infrastruktur-Gestaltung, kann nun durch immer größere soziale Beteiligung, höhere Bildung und Verantwortung eine kultivierende Qualitätsorientierung einsetzen. Die Konsolidierung der politischen Kräfteverhältnisse und wirtschaftlichen Prosperität erlaubt nach und nach eine tiefere und breitere Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung, nach Innen und Außen. Dieses Ideal ist für viele eine Hoffnung, für manche eine Illusion oder gar eine Bedrohung – je nachdem, ob sie in Chinas Stärke einen Selbstzweck der Machterhaltung oder ein Mittel zu höheren Zwecken sehen wollen.
Eine auf Resilienz zielende Politik hat mit den „Sechs Großen Signalen" 六大信号, (stabile Beschäftigung, solide Finanzierung, stabiler Außenhandel, sichere Auslandsinvestitionen, verlässliche Investitionen, fundierte Erwartungen) bereits eine Struktur gesetzt, die auf nachhaltige Sicherheit 稳 baut. Besonders wichtig sind dabei eine sensible Kommunikation und die Erweiterung des Gedankens der Kooperation, von innerer Partizipation zur äußeren, internationalen Zusammenarbeit. Die Neue Seidenstraße führt zu größerer Aufmerksamkeit auf den Wert kultureller Vielfalt, Verantwortung und der entsprechenden Soft Skills. China sieht sich mit Recht auf der internationalen Bühne mit einem komplizierteren externen Umfeld konfrontiert und vielfach allein gelassen. Auch hier sind Geduld, Umsicht und kluge Investitionen in Infrastrukturen gefordert, die Werte und Vertrauen schaffen.
Auf der Grundlage der Konsolidierung können die fortschreitenden Verbesserungen nun auch neue Bereiche in den Blick nehmen. Hier kommt es vor allem darauf an, den Begriff der „Wissenschaftlichkeit" als vernünftige Methodologie weiter zu entwickeln und die bislang eher vernachlässigten Bereiche der Sozial- und Geisteswissenschaften stärker aufzubauen, vor allem eine eigenständige Philosophie. Denn die anstehenden globalen Probleme lassen sich nur ganzheitlich und methodisch lösen: durch die trans-disziplinäre Zusammenarbeit aller relevanter Kompetenzen. Es geht um globale Gesundheit, Bildung und Verantwortung. Hier liegt ein spannendes Innovationspotenzial für Hochschulen, Forschung und Öffentlichkeit.
Um deutlich zu machen, worauf es bei dieser Herausforderung ankommt, hilft ein Blick auf die chinesische Klassik: wir wollen in einer Welt leben, die nicht mehr vom Kampf mit Tigern sondern vom kultivierenden Gärtnern geprägt ist. Denn wo in Abwesenheit des Tigers im Gebirge die Affen das Regieren übernehmen (山中无老虎, 猴子称大王), steht auch der im Hintergrund lauernde Wolf weder für eine Zukunft in Frieden noch Würde. Wer einmal auf dem Tiger reitet, kommt nie mehr davon herunter. Anstatt auf Macht oder Irrsinn zu setzen, ist es besser, Chinas Strategie im Sinne der klassischen Großen Lehre 大学 zu interpretieren: die Wahrheit in den Fakten suchen (格物 致知), die Prioritäten klären (知先近道) und geduldig an der Kultivierung der Welt arbeiten (知至而后意诚, 天下平).
Der Autor ist habilitierter Philosoph und Sinologe. Er lebt und arbeitet zwischen Berlin und Hongkong. Zuletzt hat er die Bildungseinrichtung „Europäisches Zentrum für chinesisches Denken" mitbegründet. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.