Zwischen Beijing und Washington
Chinas Botschafter a.D. in Deutschland: EU wird sich nicht vollständig auf die Seite der USA stellen Exklusiv
Darüber hinaus hätten die USA ihren Griff rücksichtslos auf ihre Verbündeten auch in Europa ausgedehnt und damit die vitalen Interessen Europas unmittelbar beschädigt. Beispielsweise wollten die USA durch Sanktionen das Erdgaspipeline-Projekt „Nordstream 2" stoppen, mit welchem Erdgas über den Ostseeboden von Russland – die Ukraine umgehend – direkt nach Deutschland und anschließend in andere europäische Länder transportiert werden kann. Zu Beginn des Jahres 2019, als das Projekt bereits zu über 90 Prozent abgeschlossen war, wurde es von den USA vereitelt. „Dieses Projekt ist für die deutsche Wirtschaftsentwicklung von großem Belang“, bemerkte Shi. Er ist der Ansicht, dass die USA einerseits besorgt darüber seien, dass das Nord-Stream-2-Projekt die Abhängigkeit der europäischen Länder von russischer Energie vertiefen werde. Andererseits befürchten sie, dass ihre eigenen Schiefergasexporte an Wettbewerbsfähigkeit verlieren könnten. Dieses hegemoniale Vorgehen hat zu einer starken Unzufriedenheit seitens Deutschlands und Russlands geführt - Beide Seiten bekräftigten ihre anhaltende Unterstützung für dieses Projekt.
Auf der anderen Seite nähmen die gemeinsamen Forderungen und Ansichten Chinas, Europas und Deutschlands stetig zu, führte Shi aus. Sowohl China als auch Europa befürworteten Multilateralismus und Freihandel sowie die Beilegung internationaler Fragen durch Konsultation und Dialog. Zudem unterhielten China und Deutschland solide Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, was zusammen eine gute Grundlage für die bilateralen Beziehungen bilde, sagte er.
Der ehemalige Botschafter hob hervor, dass Deutschland und China nicht nur ein großes Handelsvolumen hätten, auch die Handelsbilanzen beider Länder seien sehr ausgewogen. Auf keiner Seite gebe es einen deutlichen Handelsüberschuss oder ein Defizit. Stattdessen dienten die Handelsbeziehungen dem gegenseitigen Nutzen und seien im wahrsten Sinne des Wortes eine Win-win-Situation.
Aufgrund des COVID-19-Ausbruchs hat die globale Automobilbranche erhebliche Verluste erlitten, aber in China steigt der Absatz der drei großen deutschen Autokonzerne sogar, anstatt zu fallen. Im ersten Halbjahr 2020 konnte vor allem Mercedes-Benz auf dem chinesischen Markt 346.100 Fahrzeuge verkaufen – eine Steigerung von 0,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Unternehmen erzielte ein Drittel seines weltweiten Absatzes in China. Im zweiten Quartal stieg der Absatz des deutschen Autoherstellers auf dem chinesischen Markt dann sogar um 21,6 Prozent. In Europa, Nordamerika und im gesamten asiatisch-pazifischen Raum ging der Absatz laut Verband der Internationalen Kraftfahrzeughersteller im ersten Halbjahr dagegen zurück – jeweils um 31,5 Prozent, 16 Prozent bzw. 4,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Da der Automobilesektor der wichtigste Pfeiler der deutschen Wirtschaft sei, ging Shi davon aus, dass Deutschland, das in internationalen Angelegenheiten in der Regel pragmatisch handelt, den äußerst profitablen chinesischen Markt nicht aufgeben werde.
„Obwohl die USA weiterhin Druck auf Europa ausüben, wird die EU letztendlich eine unabhängige Entscheidungzum Schutz ihrer eigenen Interessen treffen. Europa wird sich also nicht vollständig auf die Seite Amerikas stellen und die Zusammenarbeit mit China aufgeben. Dass Deutschland Huawei für seinen 5G-Netzaufbau nicht ausschließen wird, ist ein gutes Beispiel dafür."
Shi wies schließlich darauf hin, dass vor dem Hintergrund der turbulenten internationalen Situation Europa und Deutschland in Chinas außenpolitischer Strategie mehr Stellenwert eingeräumt werden sollten. Die stabilen Beziehungen zwischen China und der EU sowie zwischen China und Deutschland sei besonders wichtig für Chinas Diplomatie und für die Beziehungen zu den USA.