Autorenbegegnung

Martin Walser: Solange ich schreiben kann, ist das Älterwerden eine interessante Erfahrung Exklusiv

23.09.2016

Von Wang Ran, Beijing

Auf Einladung des Goethe-Instituts China ist Martin Walser zum dritten Mal in China und stellt seinen neuen Roman „Ein sterbender Mann“ vor. In einem Exklusivinterview mit China.org.cn sprach er über seine Romane, seine China-Eindrücke, über Mo Yan und auch seine Einstellung zur Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel.

Martin Walser im Interview mit China.org.cn. (Foto von Ren Bin)

China.org.cn: Sie kamen 2008 erstmals zu Besuch nach China, dann wieder im Jahr 2009. Jetzt sind Sie bereits zum dritten Mal in China. Hat sich Ihr China-Bild verändert?

Martin Walser: Natürlich. Man kann nicht zweimal in dasselbe Land kommen, wie man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Das Leben ist ein Prozess. Ich erlebe jetzt ganz andere chinesische Details als 2008. Ich habe das Gefühl, ich bin sehr viel bewusster in China als noch im Jahr 2008. Es ist alles viel lebendiger, detailreicher und überraschender, obwohl es damals auch viel Neues gab. Das war auch schön, aber alles war öffentlich.

2009 wurde mein Roman „Ein liebender Mann“ mit dem Preis für den besten ausländischen Roman ausgezeichnet. Dazu gab es eine tolle Veranstaltung in einem Saal. Da waren sechs Professoren und auch ein Bürgermeister aus der Kreisstadt Weishan. Er hat gesagt, er wolle, dass in der Hauptstadt auch von seiner Stadt die Rede sei. Das war so mühelos, selbstverständlich und unangestrengt. Niemals könnte ein deutscher Bürgermeister so glaubhaft und liebenswürdig erzählen, warum er diesen Preis gestiftet hat. Das hat mir schon sehr imponiert. Aber das war öffentlich und das soll auch keine Herabsetzung sein.

Jetzt ist alles intensiv und persönlicher. Die Fragen in den Interviews haben mir China viel näher gebracht, als die öffentlichen Reden 2008 und 2009, obwohl ich nur Deutsch spreche. Ich habe versucht das zu vergleichen, aber ich kann mich an keine deutschen Interviews erinnern, die so verlaufen sind, wie die Interviews hier. Die Fragen der deutschen Medien sind dagegen immer tendenzvoller, mit jeder Antwort wird eine Meinung erwartet. Durch die Fragen hier merke ich plötzlich, die sprechen mit mir, und das ist sehr angenehm. Wenn ich dieses Mal zurückfahren werde, glaube ich dann, die Hauptsache bei diesem Aufenthalt in China waren die Interviews.

China.org.cn: Sie haben 2008 mit Mo Yan ein Gespräch geführt und ihn diesmal auch getroffen. Wie finden Sie die Romane von Mo Yan?

Martin Walser: Ich habe drei Romane von Mo Yan gelesen. „Das rote Kornfeld“, „Die Knoblauchrevolte“, und „Die Schnapsstadt“. Mo Yan war die allergrößte Überraschung für einen Autor, weil ich keinen Autor im Ausland oder in Deutschland kenne, der solche Romane schreiben kann. Das Faszinierende dabei ist, alle seine Ereignisse im Roman sind gleichermaßen genau, eng, persönlich und privat wie historisch bedient. Das ist kein Gegensatz. Zum Beispiel, eine Großmutter, die noch aus einem China kam, wo Frauen die Füße in enge Pantöffelchen gepresst wurden. Dann kommt die Zeit der Befreiung der Füße. Das ist so persönlich, privat, und doch auch historisch. In „Die Knoblauchrevolte“ erhängt sich die Protagonistin Fang Jinju, die hochschwanger ist, damit ihr Kind nicht zur Welt kommen kann. Das ist radikaler als in jeglicher Weltliteratur. Es gibt auch komische Stellen. Ein Gefangener wird im Polizeiauto in die Stadt transportiert. Aber er freut sich, weil er noch nie so schnell irgendwohin gefahren wurde. Diese Fähigkeit, im kleinsten Detail die ganze Geschichte zu erzählen. Das ist Mo Yan.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Martin Walser,Ein sterbender Mann,Mo Yan