Autorenbegegnung
Martin Walser: Solange ich schreiben kann, ist das Älterwerden eine interessante Erfahrung Exklusiv
China.org.cn: Ihr neuer Roman heißt „Ein sterbender Mann“ und noch ein Roman heißt „Ein liebender Mann“. Betrachtet man nur die Namen, wiederholt sich die Titelform, aber ersterer erscheint optimistisch, letzterer eher traurig. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Büchern? Hat das mit Ihren eigenen Erfahrungen in der Zwischenzeit zu tun?
Martin Walser: Nichts hängt so wenig zusammen wie „Ein liebender Roman“ und „Einsterbender Man“, die haben nur im Titel diese Partizipialkonstruktion. „Ein liebender Mann“ war meine Reaktion auf Erfahrungen von 2000 bis 2007. Da habe ich Goethe als Figur für die Handlung gebrauchen können, um das auszudrücken, was ich ausdrücken möchte. Ein literarisches Motiv war es auch. Ich hatte Romane geschrieben, in denen ältere Männer jüngere Frauen lieben. Darüber haben sich die Kritikerinnen sehr negativ geäußert. Aber meine Figuren waren immer höchstens 20 Jahre älter als die Frauen. Dann aber kam Goethe, der 74 war, und Ulrike von Levetzow 19. Solch ein Abstand habe ich in meinen Romanen nie gehabt. Das Komische ist, dass die Kritikerinnen jetzt nichts mehr dagegen haben. So einen Abstand im Alter bei mir haben sie nicht direkt verhöhnt. Für mich ist das sehr angenehm, dass ich mithilfe von Goethe einen solchen Altersabstand erzählen konnte. „Der sterbende Mann“ ist eine ganz andere Geschichte. Die hat mit der Geschichte von Goethe nichts zu tun.
China.org.cn: Die Protagonisten der beiden Romane sind Senioren. Wie ist Ihre Einstellung zum Altwerden?
Martin Walser: Wenn man älter wird, muss man versuchen, alles tun zu können, was man immer gerne getan hat, und das ist bei mir unter anderem das Schreiben. Solange ich schreibe, ist das Älterwerden eine interessante Erfahrung. Wenn ich nicht mehr schreiben könnte oder wollte, dann wäre das Älterwerden eine Katastrophe. Seit meinem siebzigsten Lebensjahr habe ich acht Romane und ein paar Tagebücher veröffentlicht. Die Schwierigkeit des Älterseins kommt schon in diesen Büchern vor, aber eben nicht als Katastrophe. In Deutschland werde ich gefragt, warum ich immer noch schreibe. Wenn ich das, was ich jetzt schreibe, früher hätte schreiben können, hätte ich es damals geschrieben. Aber das kann ich erst jetzt schreiben. Verbieten kann man mir das nicht.
China.org.cn: Sie sind nicht nur wegen Ihrer Werke bekannt, sondern auch für ihr politisches Engagement. In Ihrer Rede 1998 in der Paulskirche haben Sie erwähnt, dass Sie von der „Dauerpräsentation unserer Schande“ wegschauen müssen, und gefordert, das Gewissen von der „Moralkeule“ zu befreien. Was soll Ihrer Meinung nach der richtige Weg zur Vergangenheitsbewältigung sein?
Martin Walser: So, wie Sie es zusammenfassen, habe ich es ganz bestimmt nicht formuliert. Gesagt habe ich damals, man darf unsere Verbrechen in Auschwitz nicht dazu benutzen, um heutige Politik zu machen. Man darf diese Verbrechen nicht für heutige Zwecke instrumentalisieren. Ich habe leider versäumt, die, die das getan haben, beim Namen zu nennen, zum Beispiel Günter Grass und andere. Und weil ich keine Namen genannt habe, hat Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland gedacht, mit Instrumentalisierung von Auschwitz meine ich die Ansprüche der Juden. An so etwas würde ich niemals denken! Ich habe an Walter Jens, Günter Grass und Hans Werner Richter gedacht, die gesagt haben, die deutsche Teilung sei eine Strafe für Auschwitz, oder später der ehemalige Außenminister Joschka Fischer, der gesagt hat, den Kosovo könne man bombardieren, das müsse man aus Auschwitz gelernt haben. Das finde ich absurd. Die deutsche Teilung war das berechtigte Interesse der Siegermächte und hat nichts mit Auschwitz zu tun. Deswegen hätte ich dazu sagen sollen, wen ich mit Instrumentalisierung meine.