Durch gegenseitiges Lernen zwischen China und Europa kann die Zusammenarbeit reifen Exklusiv
Von Ole Döring
Am 1. Oktober 2019 begeht die Volksrepublik China den 70sten Jahrestag ihrer Gründung. Im In- und Ausland reiben sich Beobachter die Augen, angesichts der Wucht und Effektivität des Neuaufbaus dieses Landes.
Den örtlichen Behörden zufolge wurde Ende Juni eine neue Güterzugstrecke zwischen der Stadt Bengbu in der ostchinesischen Provinz Anhui und 17 Städten in Europa und Asien, darunter auch in Deutschland, in Betrieb genommen.
Chinas innere Entwicklung ist, schon durch seine Größe und geographische Lage, eng mit der Verfassung der Welt verknüpft. Geht es China schlecht, leidet die gesamte Menschheit mit, an den Folgen von Armut, Hunger, Krankheit, Krisen und Hoffnungslosigkeit. Geht es China gut, mehren sich die Chancen, die 17 Ziele der Vereinten Nationen für Nachhaltige Entwicklung angehen zu können. Chinas gesunde Stärke liegt im doppelten Interesse der Weltbevölkerung: innenpolitische Problemlösungen entlasten die Wirtschaft, die Umwelt, das Klima; sie entfesseln Kreativität - und schaffen die Voraussetzungen für allgemeinen Wohlstand und ein Leben in Würde.
In diesen 70 Jahren hat China drei große Phasen erlebt: Erstens die Sicherung der eigenen Existenz und Konsolidierung als Nation nach dem Zweiten Weltkrieg; zweitens die nachholende Modernisierung in der Folge der Öffnung nach 1978; drittens den Ausbau der Gestaltungsmacht Chinas in der Innen-, Regional- und Weltpolitik seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese Bilanz ist nicht nur eine beeindruckende Summe von Erfolgen auf den Gebieten der harten Infrastruktur, Wirtschaft, sozialen Grundsicherung oder der Leistungen in Forschung und Technologie. Sie ist zugleich Ausdruck einer besonderen Fähigkeit der chinesischen Bevölkerung und Politik, zu lernen und die eigene Kultur immer wieder neu zu erfinden.
Im Geiste des bisher Erreichten zeichnet sich nun ein entscheidende Situation des Übergangs ab. Im Rahmen zweier internationaler Großveranstaltungen, der Woche des Dialoges Asiatischer Zivilisationen in Beijing und dem Bo’ao Forum für Globale Gesundheit in Qingdao hat China in großer Breite der Weltöffentlichkeit vorgeführt, worauf es bei der Neuen Seidenstraße als Mechanismus für friedlichen Handel und Wandel nun ankommt: die überaus vielfältigen Völker in diesem Raum brauchen eine Vision von der vernünftigen Möglichkeit, gut mit einander auskommen zu können.
Deshalb wurde der Geist der Kooperation und des gemeinsamen Lernens beschworen, der die Doktrinen von der Konfrontation der Völker und Systeme ablösen kann. Hierfür sollen strategische Prioritäten der Zusammenarbeit vereinbart werden. Daher standen in Qingdao im Rahmen der Globalen Gesundheit der allgemeine Zugang zu gesunder Umwelt, zu Gesundheitsdiensten, die geistige Gesundheit der Jugend und der Abbau von Diskriminierung im Mittelpunkt. Mit diesen Schwerpunkten sind klare, Kulturen und Systeme übergreifende Werte und Spielregeln verbunden. Deren zielführende Umsetzung für die Menschen vor Ort verlangt ganz neue Kompetenzen aus der Wissenschaft und für die soziale Arbeit, neue institutionelle Formen und Technologien für Verknüpfung und Sicherung. Dazu gehören entsprechende innovative Studiengänge an Universitäten, Akademien für die Vermittlung sozio-kultureller Kompetenzen und Verständigung, grenzüberschreitende gemeinnützige Projekte, Jugend-Begegnungen und Kanäle für die reibungslose Zusammenarbeit regierungsamtlicher Stellen. All dies existiert bereits in teilweise beeindruckenden Ansätzen. Es kann als eigenes sozio-ökonomisches Projekt organisiert werden.
China will somit den Aufbau harter Technologien für Mobilität, Information, Finanzierung und Sicherheit durch weiche Kompetenzen wie Verständigung und Governance sowie sozio-ökonomische Infrastrukturen ergänzen. Erst damit wird aus dem bürokratischen Planraum ein sozialer Entwicklungs- und Lebensraum. Mit diesem Übergang stellt sich China seiner gewachsenen überregionalen Verantwortung, wird zu einer treibenden Kraft für Nachhaltigkeit und einem starken Partner für die alten Mächte des 20. Jahrhunderts. Die in Shandong und Guangdong vorangetriebenen Bereiche Gesundheitswirtschaft und Sozial-, Informations und Bio-Technologien sind Angelpunkte, an denen sich entscheiden wird, wie China sich selbst als gereifte Kulturnation in Zukunft verstehen will: human oder technokratisch, ermöglichend oder kommandierend.
Reifung bedeutet einen dauernden Balanceakt. Dabei geht es um die Kunst, zum Teil eigensinnige und widersprüchliche Zielsetzungen so zu organisieren, daß ihre jeweilige Wertschöpfung sich optimal gemeinnützig gestalten kann. Zu diesen Zielen gehören nationale Stärke und Frieden, politische Führung und Ausgleich, effiziente Regelung und effektive Beteiligung, Einheit und innere Vielfalt, Verbindung von Einzel- und Gemeinschaftsinteressen, Kooperation der Kompetenzen und Durchlässigkeit der inneren und äußeren Strukturen, fortlaufende Reform und robuste Stabilität. Gutes Regieren besteht in der Fähigkeit die Balance zu halten, minimal zu korrigieren und dies mit Blick auf Qualität zu tun: die Werte, die eine Volks- und Weltgemeinschaft zusammenhalten sollen produktiv gehalten werden.
In Zeiten der allgemeinen moralischen Desorientierung und des Werteverlustes braucht die Welt Chinas kulturelle Kompetenz des umfassenden Lernens. Lernen enthält bereits eine Methodik des Untersuchens, Erwägens, Fragens und Schliessens, um Spielräume, Optionen und Strategien für gutes Handeln zu erkennen. Es verknüpft die Grundgesetze der natürlichen und der sozialen Umwelt durch die menschliche Vernunft, um allgemein verbindliche Spielregeln zu erarbeiten und auf die aktuell gegebene Problemlage anzuwenden. Chinas Beitrag zur wirtschaftlichen Gesundung der Welt kann die Energie sichern und bündeln, die die Menschheit für eine neue Weltgemeinschaft benötigt. Daß China den Ländern Asiens unter der Neuen Seidenstrassen-Initiative keinen Systemkampf suggeriert, sondern dazu aufruft, den Reichtum der Kulturen zu nutzen und die menschliche Würde in ihrer Vielfalt zu respektieren, ist selbst Ausdruck einer neuen Kultur. Durch sie werden die Vereinten Nationen in die Lage versetzt, als Forum der heutigen und zukünftigen Menschheit auf Augenhöhe die gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.
Während China weiter lernt und andere Länder einlädt mitzumachen, pflegt Europa selbstbezogen die Sichtweisen und Probleme einer vergangenen Welt. Dabei bieten sich gerade die Bereiche weicher Kompetenzen für gegenseitiges Lernen zwischen China und Europa an. Historische Erfahrungen wie das Überleben existentieller Krisen, soziale Werte wie der Wert von Familie, Arbeit oder Bildung, ökonomische Einsichten wie der Zusammenhang von Innovation mit Verantwortung und philosophische Grundgedanken wie die der Aufklärung verbinden unsere Kulturen weit tiefer als wir es bislang zu denken wagen. Europa und China hätten ihr Wissen, ihre Klugheit und ihre Menschlichkeit schon mit Beginn des 19. Jahrhunderts dazu benutzen können, die eigene Vermutung zu überprüfen: ein säkularer Weg zum Glück könne auf dem Wege der Vereinigung chinesischer und europäischer Kultivierungs-Erfahrungen gelingen, durch eine vernünftige Ordnung der Welt. Das hatten Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Matteo Ricci, Xu Guangqi und Voltaire vorgedacht. Die Freundschaft zwischen Ricci und Xu und ihre Zusammenschau des technischen und geistigen Wissens ihrer Welten durfte das 17. Jahrhundert nicht überleben. Heute können und müssen wir es besser machen. Eine Sino-Europäische Akademie für Angewandte Kulturkompetenz in Verbindung mit einem Freundschaftswerk könnte Vertrauen stiften, Wissen vermitteln und Zusammenarbeit einüben. Wahrscheinlich muß die Initiative dazu aus China kommen.
Chinas Erneuerung geht weiter. Der Prozeß der Reifung aus seinen eigenen Gründen ist noch nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: wenn die Volksrepublik weiterhin Bildung und „Lernen zu lernen“ ausbaut, kann diese Reifung sich zu einem neuen Modell der Kultivierung entwickeln, das die Gestaltung der Welt inspiriert. Es ist Zeit, daß Europa sich auf diesen Reifeprozeß einläßt, damit eine bilaterale Entwicklung möglich wird.
Der Autor ist habilitierter Philosoph und Sinologe. Er lebt und arbeitet zwischen Berlin und Hongkong. Zuletzt hat er die Bildungseinrichtung „Europäisches Zentrum für chinesisches Denken“ mitbegründet. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.