Kollektive Rechte wichtiger als individuelle Exklusiv

17.03.2021

Von Elke Lütke-Entrup


Nach dem Amtsantritt von Joe Biden stellt sich die Frage, welche Werte künftig die Ost-West-Beziehungen leiten werden. Sind China einerseits und die USA und die EU andererseits Träger unterschiedlicher Wertesysteme, zwischen denen es zwangsläufig einen Konflikt geben muss? China.org.cn hat hierzu Prof. Mechthild Leutner befragt. Sie ist emeritierte Professorin für Staat, Gesellschaft und Kultur des modernen China im Fach Sinologie am Ostasiatischen Seminar der Freien Universität (FU) Berlin und Vorstandsvorsitzende des Konfuzius-Instituts an der FU Berlin. Prof. Leutner forscht zur Geschichte des modernen China in ihren politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen.


 

China.org.cn: Welche Entwicklung der zuletzt angespannten Beziehungen zwischen China und dem Westen erwarten Sie nach dem Amtsantritt von Joe Biden?

 

Prof. Leutner: Ich erwarte insgesamt eine rationale und berechenbare Außenpolitik der neuen US-Regierung. Das hoffe ich auch in Bezug auf die Beziehungen zu China. Die wirtschaftlichen Verflechtungen und die großen globalen Herausforderungen wie die drohende Klimakatastrophe, die Covid-Pandemie mit ihren gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen und globale Sicherheitsfragen erfordern multinationale Zusammenarbeit und die Erarbeitung gemeinsamer Lösungsansätze. Da ist Kooperation notwendig, nicht das Schüren von Rivalitäten und Konflikten.

 

Besteht Hoffnung auf verstärkte Bemühungen, die jeweils andere Seite besser zu verstehen?

 

Die Hoffnung auf ein besseres gegenseitiges Verständnis wächst. In allen Ländern gibt es mehr und mehr einflussreiche Stimmen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die sich für verstärkte Kooperationen im Interesse aller Beteiligten einsetzen und auf die Gefährlichkeit einer erneuten Polarisierung der Welt verweisen.

 

China und der Westen werden oft als Träger verschiedener Wertesysteme dargestellt. Welche Werte hat China mit dem Westen gemein? Wie unterscheiden sich die Werte?

 

Ich bin sehr zögerlich, eine solche Konstruktion von unterschiedlichen Wertesystemen mit zu tragen. Denn um eine Konstruktion handelt es sich letztlich, wenn all die Facetten und Unterschiede in Moral und Ethik, die es allein auf nationaler Ebene und erst recht international gibt, auf zwei oder auch mehr Wertesysteme reduziert und diese dann auch noch als gegensätzlich betrachtet werden.


Während entwickelte Staaten des Westens vielfach die individuellen Rechte priorisieren, stehen in China, wie in Asien und auch anderen Ländern des sogenannten Südens, die sozialen Rechte an erster Stelle. Dazu gehören das kollektive Recht auf Subsistenz wie Armutsbekämpfung, Zugang zu Wasser, ferner Sicherheit der Gemeinschaft, das Menschenrecht auf wirtschaftliche und politische Stabilität. Es sind auf die Menschen oder das Volk und nicht auf den Einzelnen zentrierte Menschenrechte.

 

Das zeigt sich auch deutlich beim unterschiedlichen Umgang mit der Corona-Pandemie. Asiatische Länder haben, um die Gemeinschaft zu schützen, die Rechte des Einzelnen eingeschränkt, europäische Länder und die USA haben dies nur zögerlich getan. Dies ging zu Lasten der Gemeinschaft und ihrer schwächsten Glieder.

 

Die EU und China haben sich vor kurzem auf ein umfassendes Investitionsabkommen geeinigt. Wird dies helfen, die Brücke zwischen China und dem Westen wieder zu festigen?

 

Das Investitionsabkommen bietet bessere Voraussetzungen, um die Wirtschaftsbeziehungen weiter zu stärken. Das wird sich auch auf andere Bereiche der Beziehungen auswirken. Eine Festigung kooperativer Beziehungen, ein hierauf gegründeter konstruktiver Dialog und Austausch, auch zu unterschiedlichen Positionen der Vertragspartner, ist im Interesse sowohl der EU als auch Chinas. Es ist auch im globalen Interesse der Stärkung von Multilateralismus und Frieden in der Welt.

 

Welche mittelfristigen Veränderungen sehen Sie in der chinesischen Gesellschaft? Ist ein Trend hin zu einer stärkeren „Individualisierung“ vorstellbar?

 

Derzeit stellt sich China den Herausforderungen der Corona-Pandemie, ebenso wie denen der US-Handelssanktionen. Im Zentrum steht die Sicherung und Verbesserung des erreichten Lebensstandards – auch derjenigen Chinesen, die es dank der Programme zur Bekämpfung der Armut erst kürzlich geschafft haben, ein gesichertes Auskommen zu haben und ein menschenwürdiges Leben zu führen.


Weiterhin geht es um die stetige Erreichung der gesetzten klimapolitischen Ziele und eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums. Das sind ehrgeizige Ziele und es wird der Anstrengung Aller bedürfen, diese zu erreichen. Daher gehe ich davon aus, dass das Primat der sozialen und kollektiven Rechte in China auf absehbare Zeit Bestand haben wird.

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Quelle: german.china.org.cn

Schlagworte: Joe Bide,USA,China,Europa,Werte