Junge chinesische Wissenschaftlerin wird zum Douyin-Phänomen
von Liu Yan
Zhou Siyi macht eine eindrückliche Pose für die Kamera. Genauer gesagt, ist es ihr Avatar auf Douyin, der chinesischen Version von TikTok, der die Bewegung ausführt. Auf der Social-Media-Plattform, die sich auf Kurzvideo-Content spezialisiert, ist ein regelrechter Hype um die 29-jährige Zhou entbrannt. Als nerdiger Physikfreak mit schwarzer Brille und fluoreszierendem orangefarbenen T-Shirt begeistert die junge preisgekrönte Wissenschaftlerin Millionen, posiert vor einer Wolke von Wörtern, die sich auf Kosmologie, String- und Feldtheorie sowie andere hochmoderne Zweige der modernen Physik beziehen.
„Das sind die Schlüsselwörter meines Forschungsfelds“, sagt Zhou bei ihrem jüngsten Ausflug auf Douyin. Seit etwa vier Monaten postet die Nachwuchsforscherin Videos auf der Plattform, um Laien ihr Fachgebiet näherzubringen. Sie überträgt lange und mysteriöse wissenschaftliche Begriffe gekonnt in einfache Alltagssprache, so dass jeder einen kleinen Einblick in die tiefsten Rätsel des Universums erhaschen kann. Ihr Account, Xianlun Shijie (Welt der Stringtheorie), zählt bereits über 245.000 Follower mit unterschiedlichstem beruflichen Background. Ihre Arbeit erntet viel Lob in der Online-Community, ihre Beiträge sammeln Hunderttausende Likes.
„In der letzten Zeit haben mich viele kleine Freunde mit der Frage gelöchert, ob es UFOs gibt“, erzählt Zhou, unterlegt mit einer kindlichen Comic-Animation. Das ist genau ihr Stil. Zhou nennt sich selbst „Lehrerin“ (laoshi) und ihre Follower bezeichnet sie als “kleine Freunde” (xiao pengyou), wie in China Schulkinder gerne genannt werden. Dabei tummeln sich unter ihren “kleinen” Followerfreunden gestandene Forscher, echte Doktoranden und wissbegierige Gymnasiasten. In den Kommentaren diskutieren sie eifrig über Quantenphysik, Schwarze Löcher und Dunkle Materie. Und Zhou setzt ehrgeizig Erwartungen an ihr Publikum: „Wundert euch nicht, wenn sich hier der eine oder andere spätere Nobelpreisträger herumtreibt“, sagt sie.
Schon früh eine Tüftlerin
Als Kind waren Zhous Spielzeuge Leiterplatten. Ihr Großvater unterrichtete als Physiklehrer an einem Gymnasium, ihr Vater hatte einen Abschluss in mechanischer Automatisierung in der Tasche und leitet eine Automatisierungsfirma. „Sie zeigten mir schon als Kind alle Arten von Leiterplatten“, erinnert sich Zhou. Vom Großvater habe sie die Funktionsweise einer Lochkamera gelernt, gemeinsam tüftelten die beiden an Gadgets wie selbstgebauten Radioempfängern und Modellflugzeugen. Einmal erfand Zhou ein Gerät, mit dem man die letzten Zahnpastareste aus der Tube pressen konnte. Nachdem sie die Apparatur gebaut hatte, meldeten Großvater und Enkelin ein Patent darauf an.
Physik gebe Zhou das wunderbare Gefühl, Probleme mit ihren eigenen Händen und etwas Gehirnschmalz selbst lösen zu können, sagt sie. Die Physik habe ihr auch ein inneres Auge gegeben, mit dem sie die Logik hinter vielen wissenschaftlichen Phänomenen erkennen könne, und das begeistere sie.
Schon in der Mittelschule blitzte Zhous Talent auf: Im Physikunterricht hatte sie stets die Antwort auf jede Frage parat. Auch in ihrer Oberschule, in die die besten Schüler der Stadt gingen, bestand Zhou mit Auszeichnung.
Damals sah Zhou sich den Dokumentarfilm „Dimensions: A Walk through Mathematics“ an, der die Zuschauer durch elementare Mathematik zu den Komplexitäten der vierten Dimension führte. Die zweistündige Dokumentation habe ihr einen ersten Einblick in die Schönheit der Wissenschaft in ihrer reinsten Form gegeben, sagt die heute 29-Jährige.
„Die Schönheit liegt in der Visualisierung. Durch Veranschaulichung wird etwas, das in deinem Kopf vorher nebulös war, klar und deutlich. Es ist, als würde man zur Polizeistation gehen, um eine Beschwerde einzureichen, und sie bitten dich, den Verdächtigen zu beschreiben. Du fängst an, kleine Details zu liefern, wie die Augen oder die Brille der Person aussahen, und die Beamten fangen an, ein Phantombild zu erstellen. Wird ein physikalisches Konzept in ein plastisches Bild verwandelt, ist es berührend schön, weil es die unendliche Wahrheit des Kosmos enthält“, schwärmt die junge Influencerin.
„Wissenschaft ist nichts für Mädchen“
Als Kind hörte Zhou oft, Mädchen seien nicht dazu bestimmt, Wissenschaftler zu werden. Das sei nach wie vor ein weit verbreitetes Vorurteil gegenüber Frauen in den Naturwissenschaften, auch in China, sagt sie. Zhou wird deshalb nicht müde, auf ihren Social-Media-Kanälen zu betonen, dass es ihr eine große Freude ist, „spannende Informationen über Wissenschaft mit Kindern, insbesondere Mädchen zu teilen“.
Während ihrer Promotion an der Hong Kong University of Science and Technology hatte sie einmal die Gelegenheit, mit dem argentinischen Physiker Juan Martin Maldacena zu sprechen. Diese zwei Stunden waren ihr zufolge wertvoller als ein ganzes Jahr harter Arbeit.
Im Jahr 2020 wurde Zhous Dissertation, die sie zusammen mit Suro Kim, Toshifumi Noumi und Keito Takeuchi verfasste, mit der Particle Physics Medal des Young Scientist Award der Physical Society of Japan ausgezeichnet.
Ein Jahr später dann sah Zhou ein kurzes Video von Dr. Yuan Lanfeng, einem Forscher an der China Science and Technology University, der auch das Programm Yuan's Multiverse auf YouTube moderiert. Er erklärt darin wissenschaftliches Wissen für Laien.
Yuans Clip inspirierte Zhou, etwas Ähnliches zu tun, um mehr Licht ins Wissenschaftsdickicht zu bringen. Im Juli 2021 veröffentlichte Zhou schließlich ihr erstes Video auf Douyin, in dem sie die Verschmelzung eines Schwarzen Loches mit einem Neutronenstern beschrieb und erklärte, warum die akademische Welt so begeistert von diesem Phänomen ist.
Frischer Wind für Chinas Forschung
Auf ihrem Douyin-Account serviert Zhou immer wieder einen spannenden Themen-Mix, um die Zuschauer zu fesseln. Es geht um Fragen wie: Wie wird Energie aus Schwarzen Löchern gestohlen? Gibt es die berühmten Trisolaner aus der Trisolaris-Trilogie von Science-Fiction-Autor Liu Cixin, die auf dem einzigen Planeten im Alpha-Centauri-System wohnen sollen, wirklich? Und welche verrückten Möglichkeiten hat eine wissenschaftsinteressierte Kindergartenschülerin, um ihre Haare herzurichten?
Für manche Zuschauer, denen der Algorithmus der App Zhous Beiträge ungefragt empfiehlt, mögen die Science-Videos eine Herausforderung sein und auf den ersten Blick vielleicht sogar etwas verrückt anmuten. Zum Beispiel wenn es darum geht, wie man einem Grundschüler das Konzept des PV-Diagramm-Phasenwechsels erklärt, die Grafik, die die Zustände einer Substanz unter verschiedenen Temperatur- und Druckbedingungen zeigt.
„Diese Videos sind weit jenseits meines bescheidenen Verständnisses!“, kommentiert so etwa ein Zuschauer. Manche aber fühlen die Content-Empfehlung auch als Kompliment. Viele entscheiden sich letztlich, ihr zu folgen.
„Ihre Themen übersteigen meinen Horizont, ziehen mich aber trotzdem magisch an“, sagt eine chinesische Hausfrau, deren Tochter die Mittelschule besucht. Beide sind Fans von Zhous Videos und sagen, obwohl sie nicht immer alles verstünden, bekämen sie nicht genug von dem Angebot. Zhous unterhaltsame Wissenschaftshäppchen sind zu einem gemeinsamen Klassenzimmer für Menschen aus allen Altersgruppen geworden, die sich spielerisch an wissenschaftliche Fragestellungen herantasten wollen.
Zu ihrer Überraschung und Freude haben einige ihrer Follower ihre Themen in einer noch laienfreundlicheren Sprache neu arrangiert und als Kurzvideoclips noch einmal online gestellt. „Ich sehe mich als Lehrerin für all meine kleinen Freunde“, sagt sie dazu und lacht. „Wie sich herausstellt, tummeln sich auch viele echte Lehrer auf meinem Kanal!“
Um ihrem Publikum noch mehr Wissen zu präsentieren, bittet Zhou Experten aus verschiedenen Berufen, ihr Fachwissen mit ihrem Publikum zu teilen. Außerdem bietet ihr Douyin-Kanal ihren Followern die Möglichkeit, direkt mit Forschern und Professoren in Kontakt zu kommen.
Zhou lobt ausdrücklich das Potenzial von Kurzvideoplattformen wie Douyin und TikTok. Über sie könne man ein viel breiteres Publikum erreichen als über traditionelle Medien. Mit Hilfe der Portale könnten junge Menschen mehr über Wissenschaft erfahren und die Welt besser verstehen, sagt sie. Das werde letztlich auch frischen Wind in Chinas Forschungslandschaft bringen, ist sie sich sicher.
*Liu Yan ist Reporterin der „Science Daily“.