25 Jahre nach der Rückkehr: Hongkong bleibt Stadt der Hoffnung und der Möglichkeiten
von Benjamin Chiao
Hongkongs Rückkehr zu China im Jahr 1997 war ein einschneidendes Ereignis auch in meinem Leben. Um der Armut zu entkommen, war meine Familie einst in den 1970er Jahren von Shantou auf dem chinesischen Festland nach Hongkong ausgewandert. Das war noch bevor China seine Reform- und Öffnungspolitik anstieß. Meine frühe Kindheit verbrachte ich teils in hölzernen Hausbesetzersiedlungen und teils auf den Straßen Hongkongs, wo ich meiner Familie beim Verkauf von Obst, Nudeln und Zeitungen half, womit wir uns mehr schlecht als recht über Wasser hielten. Ein Jahrzehnt harter Arbeit später hatten wir den Sprung in die Mittelschicht geschafft. Mein Vater war Überlebender des Zweiten Weltkriegs, besaß keine Schulbildung und scherte sich auch kaum um mein schulisches Fortkommen. Auch meine Mutter hatte die Schule nach nur wenigen Jahren abgebrochen. Da auf diese Weise wenig beruflicher Spielraum bestand, blieb meinen Eltern nur schuften für den Broterwerb.
Ich selbst machte 1997 meinen Bachelor-Abschluss an der Hong Kong University of Science and Technology, arbeitete danach zunächst einige Jahre und promovierte schließlich an der University of Michigan. 2008 kehrte ich aufs chinesische Festland zurück, um eine Stelle als Assistenzprofessor an der Peking-Universität anzutreten. Heute bin ich nicht nur Dekan des Bereichs Asienstudien und zuständig für die Zusammenarbeit mit einigen europäischen Universitäten, sondern auch akademischer Vorsitzender eines Industrieverbandes für künstliche Intelligenz in Shenzhen sowie Vorstandsvorsitzender eines Inkubators in Qianhai bei Shenzhen. Meine Geschwister stehen ebenfalls mit beiden Beinen im Berufsleben und führen ihre eigenen Unternehmen.
Die Geschichte meiner Familie ist nicht untypisch. Die Migration über die Grenze von Shenzhen war eine der massivsten der Neuzeit. Hongkong trug maßgeblich zur Öffnung Chinas bei, insbesondere in den frühen Jahren der Reform und Öffnung, die vor mehr als 40 Jahren angestoßen wurde. Die tiefgreifenden Veränderungen, die China seither erlebt hat, sind für viele Chinesen im In- und Ausland Grund zum Stolz. China half auch Hongkong dabei zu gedeihen, insbesondere nach dem Beitritt der Volksrepublik zur Welthandelsorganisation, aber auch in den schwierigen Zeiten der asiatischen Finanzkrise 1997 und der globalen Finanzkrise 2007/2008 sowie während der beiden Pandemien – SARS und COVID-19.
Viele der politischen Maßnahmen, die Beijing über die Jahre getroffen hat, um Hongkong entwicklungsmäßig unter die Arme zu greifen, waren äußerst wirkungsvoll. Der SARS-Ausbruch im Jahr 2003 sorgte in der Sonderverwaltungszone für einen drastischen Wirtschaftseinbruch. China passte daraufhin seine Reisepolitik durch ein System für Individualreisen an, wodurch Bewohner des Festlandes bei Hongkong-Besuchen nicht mehr an Reisegruppen gebunden waren. Das Ergebnis war ein sofortiger Wachstumsschub. Die Zahl der Besucher vom Festland hat sich seit der Übergabe Hongkongs im Jahr 1997 um das 18-Fache erhöht. Die Proteste im Jahr 2019, die Hongkongs Wirtschaft vorübergehend aus den Fugen hoben, setzten diesem Trend vorrübergehend ein Ende. Das Festland half jüngst auch beim Bau provisorischer Krankenhäuser in der Sonderverwaltungszone und entsandte medizinisches Personal, schickte Impfstoffe und Vorräte, als Hongkong Anfang 2022 ein erneutes Aufflammen der Coronapandemie durch die Omikronvariante erlebte.
Als Wirtschaftsprofessor diskutiere ich häufig mit meinen Studierenden über die Vor- und Nachteile der chinesischen Wirtschaftspolitik. Wie in jedem anderen Land läuft auch in China natürlich nicht alles perfekt. Aber die chinesische Regierung ist geschickt darin, neue Ideen auszuloten, da sie neue politische Maßnahmen vor der landesweiten Einführung in der Regel zunächst versuchsweise in einzelnen Städten erprobt. Das soll nicht heißen, dass alle Beamten ihre Pflichten einwandfrei erfüllen. Aber wer schon einmal persönlich mit den Menschen in China gesprochen hat, stellt fest, dass es unserem Land nicht an scharfsinnigen und sachkundigen Amtsträgern mangelt, denen das Bürgerwohl am Herzen liegt. Sie waren es, die während der Pandemie an vorderster Front alles dafür gegeben haben, das Leben der Menschen in China zu schützen.
Im Rahmen des Prinzips „Ein Land, zwei Systeme“ hat Hongkong – abgesehen von den Bereichen nationale Sicherheit und internationale Beziehungen – eine hohe Autonomie bei der Verwaltung der Stadt. Meiner Meinung nach hat China seine Versprechen zweifellos gehalten. Hongkong ist noch immer ein freier Markt mit einem soliden Rechtssystem. Bester Beweis hierfür ist, dass die Länder des Common-Law-Systems auch nach der Übergabe die in Hongkong gefällten Gerichtsentscheidungen als Präzedenzfälle für ihr eigenes Rechtssystem nutzen. Hongkong ist auch nach wie vor ein globales Finanz- und Handelszentrum sowie der regionale Hauptsitz internationaler Unternehmenszentralen. Und die Metropole ist ein wichtiger Investitions-, Transport- und Logistikknotenpunkt für die Weltwirtschaft geblieben.
Seit der Rückkehr zum Festland hat sich Hongkongs Wirtschaftsleistung in etwa verdreifacht. Obwohl das Pro-Kopf-BIP der Region im weltweiten Vergleich beeindruckend ist, beträgt es doch ein Drittel weniger als das von Singapur, mit dem man 1997 noch etwa gleichauf lag. Dies ist jedoch nicht überraschend. Schließlich hat die Region mit tiefgreifenden Problemen zu kämpfen, unter anderem in Bezug auf politisches System, Wohnungswesen, Wirtschaftsstruktur und Jugendentwicklung.
Vor der Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong im vergangenen Jahr gab es ernsthafte Probleme auf der politischen Bühne. Als die Briten Hongkong 1997 verließen, stellten sie die Weichen für ein politisches Kräftemessen. Oft legte der Legislativrat ein Veto gegen Wirtschaftspläne ein, die für Hongkong eindeutig von Vorteil waren. Zum Beispiel sank das Ausmaß der Landgewinnung um das Zehnfache, obwohl die Gewinnung von Neuland angesichts der exorbitanten Immobilienpreise in der Metropole dringlicher scheint denn je. Die Opposition nahm Gründe wie den Umweltschutz zum Vorwand, um dringend notwendige Projekte zu sabotieren.
Nun, da das neue Sicherheitsgesetz und die Regeln für die Wahl des Hongkonger Regierungschefs in Kraft sind, richtet sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit darauf, ob es Hongkong gelingt, wieder auf den richtigen Weg zurückzukehren, um das phänomenale Wachstum des Festlandes voll auszuschöpfen. Dies gilt insbesondere angesichts des neuen Plans zur Entwicklung des Großbuchtgebietes Guangdong-Hongkong-Macao – auch als Greater Bay Area bekannt. Durch ihn sollen die Metropolen Hongkong und Macao sowie neun weitere Städte in der südchinesischen Provinz Guangdong miteinander verbunden werden, was tiefsitzende Probleme wie den teuren Wohnraum in Hongkong entschärfen soll. Hongkonger könnten in Zukunft von einer Wohnung in Guangdong, die nur ein Zehntel des Metropolenpreises kostet, in 30 Minuten zu ihrem Arbeitsplatz in Hongkong gelangen. Und warum auch nicht? Viele New Yorker pendeln täglich von New Jersey in den „Big Apple“.
Vor zwei Jahren, als die Spannungen zwischen dem Vereinigten Königreich und China zunahmen, lockerte Großbritannien seine Staatsbürgerschaftspolitik in Bezug auf die Einwohner Hongkongs. Viele nutzten diese Gelegenheit, um nach Großbritannien auszuwandern. Gleichzeitig aber zogen auch viele Menschen von Großbritannien nach China, insbesondere in die Greater Bay Area, um Unternehmen zu gründen.
HarbourChill im Festgewand: Zur Feier des 25. Jahrestages der Rückkehr Hongkongs zu China hat sich das Themenareal im Hafenbereich neben dem Wan Chai Ferry Pier festlich herausgeputzt. Unser Bild entstand am 16. Juni 2022.
Nur eine Fahrtstunde von Hongkong entfernt liegen Shenzhen, Guangzhou, Macao, Zhuhai und weitere Städte im Großbuchtgebiet. Die Menschen, die in diesen Städten leben, genießen bereits ein Pro-Kopf-BIP, das dem in Spanien und Italien entspricht. Die Greater Bay Area gilt damit schon heute als eine der wohlhabendsten und innovativsten Regionen der Welt. In den letzten fünf Jahren wurden hier doppelt so viele Patente eingereicht wie im Silicon Valley. Dies steht im scharfen Kontrast zu dem pessimistischen Bild, das der Westen von Hongkong gezeichnet hat, insbesondere während der missglückten Farbrevolution.
Während der Unruhen 2019 skandierten viele Hongkonger Slogans wie: „Lasst uns dem erfolgreichen Modell der Ukraine folgen!“ Wir sehen heute, wie sich die Situation in der Ukraine seit der Farbrevolution 2014 verschlechtert hat, als die rechtmäßig gewählte ukrainische Regierung gestürzt wurde und man bemüht war, pro-westliche Parteien in die Übergangsregierung einzubeziehen.
Die Reformen, die das Wahlkomitee der Sonderverwaltungszone Hongkong (HKSAR) in Bezug auf seine Größe, Zusammensetzung und Einberufung sowie den Umfang seiner Befugnisse durchgeführt hat, haben dafür gesorgt, dass in Zukunft noch mehr Patrioten die Stadt regieren werden.
Wir alle wissen, dass es sich um eine Wahl von 1500 Abgeordneten und nicht um ein allgemeines Wahlrecht handelt. Aber es ist dennoch eine Verbesserung von Null auf Eins seit der Übergabe. Unterdessen offenbart das westliche demokratische System seine Defizite: Im Westen sehen wir etwa oft mangelnde Wahlbeteiligung, und der Gewinner erhält weniger Stimmen als eigentlich zu erwarten wäre. In vielen Fällen haben die gewählten US-Präsidenten letztlich nur eine kleine Teilmenge aller US-Bürger vertreten.
In den vergangenen Jahren haben die USA nichts unversucht gelassen, um die Welt vom bevorstehenden Untergang Hongkongs zu überzeugen, insbesondere durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Metropole, um Chinas Entwicklung einen Dämpfer zu verpassen. Bisher sind all diese Versuche verpufft.
Hongkong hat seine Widerstandsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt und bleibt als internationales Finanzzentrum extrem stark. Die Region führt auch die Rangliste bei der Beschaffung von Kapital für Börsengänge an. 2020 wurden in Hongkong 500 Milliarden Hongkong-Dollar an IPO-Mitteln aufgebracht – ein Anstieg um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Hongkonger Bankensystem verfügte im selben Jahr über Einlagen in Höhe von 15 Billionen Hongkong-Dollar – ein Anstieg von acht Prozent im Vorjahresvergleich. Hongkong schaffte es laut der Studie von Oxford Metrica Survey im Jahr 2021 damit erneut unter die drei führenden Finanzzentren der Welt. Die Abstriche, die man im Vergleich zu früheren Rankings hinnehmen musste, waren auf die Proteste in Hongkong 2019 und die Pandemie zurückzuführen.
Die Pandemie ist in Hongkong fürs erste ausgestanden. Zwar gibt es nach wie vor Herausforderungen, doch winken auch zahlreiche neue Möglichkeiten. Es gibt viele staatliche Tochtergesellschaften und private Firmen vom chinesischen Festland, die in Hongkong vertreten und darauf erpicht sind, mit potenziellen Geschäftspartnern aus der ganzen Welt in Kontakt zu treten, da sich Hongkong allmählich wieder für Reisende aus dem Ausland öffnet.
In diesem Jahr werden sicherlich wieder mehr Reisende nach Hongkong strömen. Einige werden feststellen, dass die Finanzmetropole nach wie vor eine effiziente Marktwirtschaft ist. Andere haben vielleicht das Gefühl, dass Hongkong „chinesischer“ geworden ist. Aber warum sollte das ein Problem sein? Eine stärkere Verzahnung mit dem Festland wird den potenziellen Wohlstand nicht beeinträchtigen.
Nachdem ich insgesamt mehr als 20 Jahre vor und nach der Rückgabe Hongkongs in China gelebt habe, habe ich unter jeder Rechtsordnung genug gesehen, um einen vernünftigen Vergleich zu ziehen. Ich habe zudem einige Jahre in Europa und den USA verbracht und bin jetzt hauptsächlich auf dem chinesischen Festland tätig. Mein Vergleich mag vielleicht nicht der objektivste sein, doch ist er fundiert und geprägt durch eigene Erfahrungswerte.
Ich bin fest überzeugt, dass Hongkong noch einen langen und erfolgreichen Weg vor sich hat, solange es weiterhin die Rolle des Superbindeglieds zwischen der Welt und Chinas enormem Markt übernimmt. Davon werden am Ende sowohl das Festland als auch Hongkong profitieren.
*Benjamin Chiao, Ph.D. (University of Michigan), ist Professor und Dekan für Asienstudien am Paris School of Technology and Business sowie Professor an der Southwestern University of Finance and Economics.