Lernen von der Kultur des Anderen – Interkulturelles Wissen übertragen auf die Weltpolitik
von Robert Walker
Unsere Welt droht derzeit, von geopolitischen Interessen zerrieben zu werden. In solchen Zeiten ist interkulturelles Verständnis der zentrale Schlüssel, der uns wieder zusammenführen kann. Das heißt nichts anderes, als dass wir verstehen müssen, dass wir als Menschen und Nationen alle gleich und doch verschieden sind.
Seit China als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt Fuß gefasst hat, tummeln sich jede Menge Businessratgeber über China und Leitfäden für die interkulturelle Kommunikation mit dem Reich der Mitte in den Läden. In diesen Büchern bzw. Abhandlungen wird stets eine These betont: China ist anders. Dafür stehen auch meine chinesischen Kollegen.
Doch wovon unterscheidet sich China? Von der westlichen Norm? Dieser Sichtweise liegen mindestens zwei Missverständnisse zugrunde:
Erstens die implizite Annahme, es gebe nur eine westliche Norm. Dabei lässt sich dies ganz einfach widerlegen: So sind die Strukturen und die Politik der Europäischen Union nicht dieselben wie in den USA. Auch die Debatten im Europäischen Parlament selbst spiegeln ein breites Meinungsspektrum, das wiederum Abbild der verschiedenen Parteien und Kulturen in der EU ist.
Tatsächlich gibt es auch in der westlichen Welt heute genauso viele Normen wie Kulturen, wenn man genauer hinsieht. Nach mehr als einem Jahrhundert amerikanischer Hegemonie – von Hollywood über McDonald’s bis zu Afghanistan – werden all diese Unterschiede aber gerne als ein einziger Weg über einen Kamm geschoren, der sich allerdings von der idealisierten Vorstellung der amerikanischen Art klar unterscheidet.
Die zweite falsche Annahme ist, China weiche von derjenigen Norm ab, die als der „richtige Weg“ angesehen wird. Für viele von uns ist der richtige Weg das, was unsere Mütter und Väter getan haben. Haben sie den Apfel mit oder ohne Kerngehäuse gegessen? Haben sie sich vor oder nach dem Frühstück die Zähne geputzt oder sogar gar nicht?
Gedenken an Konfuzius: Der Bayi-Tanz, ein uralter Tanz aus der Zhou-Dynastie (ca. 11. Jh. – 256 v. Chr.), wurde am 3. April bei einer Zeremonie in Qufu, Provinz Shandong, aufgeführt, der Geburtsstadt des Konfuzius.
Die chinesische Kultur ist mindestens 3000 Jahre alt, und viele gesellschaftliche Normen in China lassen sich auf die Werke des Konfuzius und seiner Anhänger zurückführen. Der Konfuzianismus ist vielleicht am besten als eine Philosophie zu verstehen, ein Logiksystem, dessen Ziel darin besteht, eine harmonische Gesellschaft zu formen und das menschliche Wohlergehen zu fördern.
Anderswo wurden historische Gerechtigkeitsvorstellungen oft von religiösen Leitfiguren fortgeführt. Zahlreiche Kriege, die man im Namen religiöser Dogmen geführt hat, bestätigen jedoch die Falschheit einer einzigen universellen religiösen Wahrheit, einer einzigen richtigen Weise, die Dinge zu tun.
Als Individuen kommen wir mit anderen Kulturen oft über die Medien oder den Umgang mit Ausländern in Berührung. Wer Glück hat, besitzt die Möglichkeit, fremde Kulturen direkt über Auslandsreisen zu erleben oder über kulturell vielfältige Gemeinschaften. Fest steht: Wir interpretieren die Differenzen, die wir in einer fremden Kultur entdecken, stets durch die Brille unserer eigenen Kultur. Das aber erzeugt Zerrbilder.
Als ich an der Universität Oxford lehrte, fiel mir auf, dass chinesische Studierende unglaublich fleißig waren. Sie schrieben alles mit, was im Unterricht gesagt wurde, stellten aber kaum Fragen zu den Unterrichtsinhalten. Dieses Verhalten, das sich sehr von dem ihrer europäischen und amerikanischen Kommilitoninnen und Kommilitonen unterschied, wird oft durch eine gefärbte Brille interpretiert.
In den westlichen Medien wird China immer wieder als totalitärer Staat dargestellt, der alles kontrollieren will, sogar die Gedanken der Menschen. Unter Akademikern in Oxford war daher die Meinung verbreitet, chinesische Studierende hätten einfach Angst davor, dass alles, was sie sagten, von Spionen im Klassenzimmer an die chinesische Regierung weitergegeben werden könnte.
Das Privileg, in China zu leben, bietet mir aber ein ganz anderes Verständnis. In China wird Bildung sowohl als Weg zu sozialer Mobilität als auch als Weg zur Tugendhaftigkeit hoch geschätzt. Chinesische Dichter, Gelehrte und Denker wurden im Laufe der Geschichte wie Weise verehrt, die ihr Wissen von Generation zu Generation weitergaben. Diese Lehrmeister lehrten, was sie für wahr hielten. Ihre Schüler hörten in erster Linie zunächst einmal zu und nahmen diese Wahrheit zur Kenntnis.
Dieses Verhalten ist übrigens nicht auf das chinesische Klassenzimmer beschränkt. In chinesischen Unternehmen ist es unwahrscheinlich, dass Untergebene ihren Vorgesetzten offen widersprechen oder ihre eigene Meinung äußern. Wang Shuo und Pasi Fränti vom American Institute of Mathematical Sciences, die zur chinesischen Kultur forschen, führten Interviews mit Mitarbeitern zweier europäischer Tochtergesellschaften chinesischer Unternehmen durch und veröffentlichen ihre Ergebnisse in einem Forschungsartikel. Die Mitarbeiter vor Ort erlebten die chinesischen Firmen als streng hierarchisch organisiert, wie eine steile Pyramide – gekennzeichnet durch einseitige Kommunikation, fehlendes Mitspracherecht des Personals und Bezahlung je nach Status und nicht nach Leistung.
Wang und Fränti interpretieren ihre Ergebnisse mit Blick auf das Konzept der „Machtdistanz“. Diese Kulturdimension (nach Hofstede) gibt Auskunft darüber, wie ungleich Macht innerhalb einer Organisation verteilt ist. Man kann sie auch als Ausdruck des chinesischen Respekts vor Autoritäten betrachten. Dieser Respekt entspringt dem konfuzianischen Ideal, dass Hierarchie ein Ausdruck von Tugend ist, der sich in der Sorge um das Wohlergehen der in der Hierarchie niedriger stehenden Personen zeigt.
Das Beobachten und Verstehen von Unterschieden ist der erste Schritt zum Respekt vor anderen Kulturen. Um Unterschiede zu achten, ist es nötig, die Existenz anderer Denkweisen und Vorgehensweisen zu akzeptieren, sich ihnen anzupassen und bereit zu sein, von ihnen zu lernen.
Seit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert war die europäische Wissenschaft bestrebt, die Ideen von den Individuen zu trennen, die diese vertreten, und die Ideen, nicht aber die Personen zu kritisieren. Diese Trennung von Person und Idee passt jedoch schlecht zum chinesischen Konzept des mianzi, also des „Gesichts“, mit dem Selbstachtung, Ruf und soziales Ansehen verbunden sind.
Einheimische verschaffen sich einen Überblick über die Preise eines Imbisses in Havanna. Seit 2021 hat Kuba die Öffnung von kleinen und mittleren Unternehmen zugelassen.
In der heutigen Zeit, in der Wissen und Bildung noch immer einen hohen Stellenwert besitzen, verliert man schnell sein Gesicht, wenn die eigenen Gedanken offen kritisiert werden. Das war mir nicht bewusst, als ich zum ersten Mal mit chinesischen Wissenschaftlern an einem Forschungsprojekt zusammenarbeitete. Ich habe zehn Jahre lang darüber nachgedacht, wie ich einen Kollegen und engen Freund einst beleidigt habe.
Die Vermeidung öffentlicher Kritik gilt in China auch für Politik und Regierung. Als ein in Großbritannien ausgebildeter Politikanalyst würde ich in China schnell mein Gesicht verlieren. Mit der Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es der Respekt gebietet, zunächst die Vorzüge einer Politik zu würdigen. Erst dann ist es möglich, Vorschläge zu unterbreiten, wie sich diese Politik weiter verbessern ließe. Das Ziel mag dasselbe sein, die Wege aber, die zum Ziel führen, gestalten sich sehr unterschiedlich.
Kurse zum interkulturellen Verständnis für Geschäftsleute beginnen in der Regel mit einer Erinnerung an den verzerrenden Einfluss unserer eigenen Kultur. Dann wird betont, wie wichtig es ist, die Überzeugungen und Werte anderer Kulturen zu verstehen. Der nächste Schritt besteht darin, kulturelle Vielfalt zu respektieren. Dies ermöglicht die Entwicklung praktischer Fähigkeiten, um mit Unterschieden umzugehen und von den daraus resultierenden multikulturellen Vorstellungen zu profitieren.
Diese vier Trainingsschritte zum interkulturellen Verständnis sind letztlich auch nützlich, um geopolitische Spannungen zu entschärfen, wie sie derzeit internationale Geschäftskooperationen und den kulturellen Austausch behindern.
Verdeutlichen lässt sich dies zum Beispiel am Welthandel. Die Globalisierung steht derzeit am Scheideweg. Man kann ihr vorwerfen, dass sie den reichen Ländern, wohlhabenden Privatpersonen und Unternehmen unverhältnismäßige Vorteile bringt. Das stimmt. Doch die Globalisierung hat auch für ein beispielloses globales Wirtschaftswachstum gesorgt. Die Welthandelsorganisation, die den Handel regulieren soll, wird von den USA wegen ihres Berufungssystems boykottiert. Gegen China und 36 andere Staaten, überwiegend Entwicklungsländer, wurden Wirtschaftssanktionen verhängt, von denen viele als illegal gelten, um den Handel dieser Länder einzuschränken und angebliche Handelsverstöße zu bestrafen.
Bei ihrer Gründung im Jahr 1995 verfolgte die WTO eine Reihe von Prinzipien, die auf der liberalen US-Ökonomie basierten und den Gesetzmäßigkeiten der angelsächsischen sowie der kontinentaleuropäischen Variante des Kapitalismus folgten. Diese Prinzipien wurden dann als Regeln und Normen externalisiert – als der richtige Weg, Handel zu treiben. Letztlich wurden sie auf diese Weise anderen Ländern aufgezwungen. Dazu gehörten eine auf Privateigentum basierende Marktwirtschaft, klare Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Sektor sowie ein Bekenntnis zu freien Märkten und Rechtsstaatlichkeit.
China, eine sozialistische Marktwirtschaft, die sowohl marktwirtschaftliche als auch gemeinwirtschaftliche Prinzipien verfolgt, trat der WTO 2001 nach 15 Jahren Verhandlungen bei. Zu diesem Zeitpunkt betrug das Chinas BIP nur 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA. Die Erwartung der damaligen WTO-Verhandlungsführer, die China durch ihre verzerrte kulturelle Linse betrachteten, war, dass China bis 2015 unweigerlich zu einer liberalen Marktwirtschaft werden würde.
Die chinesische Wirtschaft ist heute in der Lage, die der USA in ihrer Größe herauszufordern. Die hochentwickelten Länder erkennen die Unterschiede zwischen ihnen und China, aber sie respektieren diese Unterschiede nicht. Stattdessen wird China als systemischer Rivale betrachtet, der versucht, die WTO zu sabotieren. Die USA, die EU und Japan fordern gemeinsam, dass China seine sozialistische Marktwirtschaft aufgibt, um „nicht-marktorientierte politische Maßnahmen“ auszuräumen, die angeblich „unfaire Wettbewerbsbedingungen“ schaffen.
Jeder, der sich mit interkulturellem Verständnis beschäftigt hat, weiß, dass kulturelle Akzeptanz und Respekt vor anderen Kulturen eine Voraussetzung für erfolgreiche Zusammenarbeit sind. Das gilt auch für Regierungen. Unterschiede sind keine Bedrohung, sondern eine Chance zur Zusammenarbeit, um ein Welthandelssystem zu schaffen, von dem möglichst alle profitieren.
*Robert Walker ist emeritierter Professor und emeritierter Fellow des Green Templeton College der Universität Oxford. Er ist Professor an der Jingshi Academy der Beijing Normal University und zudem Fellow der Royal Society of Arts sowie der Academy of Social Sciences im Vereinigten Königreich.