Ein etwas anderer Ansatz
Mathematik im Alten China Exklusiv
von Elke Lütke-Entrup
Chinas Schüler hatten in der jüngsten Pisa-Studie 2018 der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im internationalen Vergleich in Mathematik die Nase vorn. Was viele nicht wissen: Chinas Mathematik unterschied sich ursprünglich wesentlich von der westlichen. Im Interview mit China.org.cn. zeigt Professorin Andrea Bréard – Lehrstuhlinhaberin für Sinologie mit Schwerpunkt Geistes- und Kulturgeschichte Chinas an der Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, worin diese Unterschiede bestanden.
Prof. Andrea Bréard ©Gudrun Holde-Ortner
China.org.cn: Prof. Bréard, wie wurde Mathematik im alten China – im Vergleich zum Westen – überliefert?
Prof. Andrea Bréard: Die frühesten numerischen Aufzeichnungen sind Zahleninschriften auf Orakelknochen aus der Shang-Dynastie (zirka 12. Jahrhundert v. Chr.).
Die ältesten mathematischen Manuskripte dagegen sind Bambusspleißen-Schriftrollen, wovon erst kürzlich einige wenige als Grabbeigaben hoher Beamter entdeckt wurden. Sie stammen aus der Qin- und Han-Zeit, wobei man das älteste Manuskript auf das späte 3. Jahrhundert v. Chr. datiert.
Orakelknochen mit Zahleninschriften aus der Shang-Dynastie (12. Jahrhundert v. Chr.), Shanghai-Museum
Die Materialien sind andere als wir sie aus der babylonischen, ägyptischen und griechischen Antike kennen. Dort spielten Tontafeln, Papyri und Pergamentpapier oder Leder als Beschreibstoff eine wichtige Rolle in der Überlieferung.
Welche interessanten Beispiele aus der chinesischen Mathematikliteratur gibt es?
Schon sehr früh, in der Han-Literatur (1. Jahrhundert) findet man Algorithmen zum Ziehen der Quadratwurzel und eine äquivalente Formulierung des Pythagoreischen Satzes. Daneben gab es aber auch Algorithmen, die für die Voraussage von Ereignissen bedeutend waren, zum Beispiel zur Berechnung des Schicksals oder des Geschlechtes eines Kindes.
Viele Berechnungen hatten einen praktischen Bezug. Allerdings heißt dies nicht, dass chinesische Mathematik rein pragmatisch orientiert war.
Der Mathematiker Zhu Shijie hat zum Beispiel in seinem Jadespiegel der vier Unbekannten von 1303 berechnet, in wie vielen Tagen ein Beamter 23.400 Soldaten für eine Armee rekrutiert hat. Er rief am ersten Tag einen Würfel von 33 Soldaten herbei und die folgenden Tage jeweils einen Soldaten mehr pro Seitenlänge des Würfels.
Hier erkennt man die abstrakte Komponente hinter der sehr konkreten Situation.
Wer war der berühmteste chinesische Mathematiker und warum?
Zu Lebzeiten war wohl kein traditioneller chinesischer Mathematiker berühmt, denn kaum einer von ihnen hatte eine hohe Stellung im Beamtensystem. Dies war damals eine wichtige Voraussetzung, um in die Geschichtsschreibung einzugehen.
Die Mathematiker Liu Hui (l.) und Zu Chongzhi auf Briefmarken
Wenn man jedoch chinesische Briefmarken oder Büsten in Museen als Kriterium nimmt, so wäre das wohl Liu Hui (3. Jahrhundert) oder Zu Chongzhi (430 bis 501).
Zu Chongzhi wird immer wieder als der beste Mathematiker, Astronom und Ingenieur seiner Zeit zitiert, obwohl keinerlei mathematische Schriften von ihm überliefert wurden. In der Geschichte der Sui-Dynastie 隋書 wird erwähnt, dass Zu herausgefunden hat, dass 𝜋 (Pi) zwischen 3,1415926 und 3,1415927 liegt, beziehungsweise durch den Bruch 355/113 angenähert werden kann. Zu seiner genauen Methode wird nichts berichtet.
Liu Hui dagegen kommentierte im Jahr 263 Chinas wichtigstes Mathematikwerk, die Neun Kapitel mathematischer Prozeduren aus dem 1. Jahrhundert. Er ergänzt den Klassiker durch theoretische Überlegungen, die zeigen, warum die darin enthaltenen Rechenwege korrekt sind.
Im 20. Jahrhundert, in der modernen Mathematik, gibt es natürlich viele berühmte chinesische Mathematiker. Dies sind zum Beispiel Wu Wenjun, S. S. Chern oder Hua Luogeng. Sie sprechen Mathematik in derselben Sprache wie alle anderen internationalen Mathematikforscher auch und arbeiten mit denselben Methoden wie sie, als Teil globaler wissenschaftlicher Netzwerke.