Traditionelle Chinesische Medizin
„Eine dauerhafte intensive Zusammenarbeit ist für die Medizinentwicklung erforderlich" Exklusiv
Von Cao Ying, Beijing
Der „Shulan Medical Award" ist als Nobelpreis für chinesische Medizin bekannt. Wie die „Academician Shusen Lanjuan Talent"-Stiftung beschreibt, werden mit dem Preis herausragende chinesische wissenschaftliche und technologische Talente ausgezeichnet, die bahnbrechende Innovationen im medizinischen Bereich erzielt haben. Der Preis wurde zum ersten Mal im Jahr 2014 verliehen. Dieses Jahr ist der deutsche Sinologe und Medizinhistoriker Paul Ulrich Unschuld der erste Ausländer, der den Spitzenpreis von dem „Shulan Medical Award" erhält. Professor Doktor Unschuld befasst sich vor allem mit der der chinesischen Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. In einem Exklusiv-Interview mit China.org.cn erzählt er seine Geschichte mit China sowie der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).
China.org.cn: Herr Prof. Dr. Unschuld, herzlichen Glückwunsch dafür, dass Sie den Spitzenpreis für den „Shulan Medical Award" bekommen haben. Wie denken Sie über diese Auszeichnung?
Paul Ulrich Unschuld: Zunächst einmal bin ich sehr dankbar. Ich habe mir angeschaut, wer die Shulan Medicine Awards in der Vergangenheit erhalten hat – das sind alles sehr fähige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die eine solche Auszeichnung erhalten haben. Dass ich als erster Ausländer in die Reihe dieser ausgezeichneten Persönlichkeiten gestellt worden bin, ist eine kaum für möglich gehaltene Ehrung. Da der Preis für „bahnbrechende Innovationen" verliehen wird, darf ich annehmen, dass die Tatsache eine Rolle gespielt hat, dass ich als erster die antiken chinesischen medizinischen Klassiker Huang Di Neijing Suwen, Huang Di Neijing Lingshu und das Nanjing nach strengsten, europäischen philologischen Richtlinien ins Englische übersetzt habe. Dadurch sind meine Übersetzungen heute weithin als Standard anerkannt und es freut mich sehr, dass diese Leistung nun auch in China anerkannt wird.
Wir wissen, dass Sie seit mehr als 40 Jahren traditionelle chinesische Medizin (TCM) studieren und Werke wie Traditionelle Chinesische Medizin oder Medizin in China. Eine Ideengeschichte geschrieben sowie klassische chinesische Medizinbücher wie Huang Di Nei Jing aus dem Chinesischen übersetzt haben. In welcher Beziehung stehen Sie zur chinesischen Medizin und zur chinesischen Kultur? Können Sie uns etwas über Ihre Forschung erzählen?
Meine Forschung folgt meiner Kompetenz und meinen persönlichen Interessen. Ich habe Pharmazie studiert und in diesem Studium u. a. die Grundlagen von Chemie, Physik und Botanik kennen gelernt. Ich habe Sinologie und Politische Wissenschaften studiert und ich habe einen Master of Public Health erworben. Alle diese Kenntnisse sind in meine Forschungen eingeflossen. Ich glaube, ich war der erste, der die enge Verknüpfung von medizinischem und politischem Denken und Handeln in China seit der Antike erkannt und beschrieben hat. In Kürze wird im Verlag Foreign Languages Press eine chinesische Übersetzung meines Buches Chinas Trauma – Chinas Stärke erscheinen. Dies ist eine Analyse der chinesischen Politik der vergangenen zwei Jahrhunderte. Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, wenn ich nicht einen Überblick über zwei Jahrtausende chinesischer Krisenbewältigung im Staate und im eigenen Körper hätte. Ich betrachte mich selbst als Ideenhistoriker.
Wir leben auf dem Eurasischen Kontinent und sind von kleinen Unterschieden abgesehen identische biologische Objekte. Wir erleiden vergleichbare Krankheiten und betrachten den lebenden und den toten Körper mit gleicher Aufmerksamkeit. Wieso kommen China und Europa zu anderen Schlüssen, was Krankheit und Gesundheit sind? Es liegt an der Kultur, an den Weltanschauungen und Religionen, an den politischen Systemen und an der natürlichen Umwelt, dass sich unterschiedliche Ideen entwickelt haben. Deren Entstehung und Veränderung im Laufe der Jahrhunderte interessiert mich; darauf ist meine Forschung konzentriert. Um diese Ideengeschichte zu verstehen, muss ich die Textquellen der zwei Jahrtausende philologisch lesen und übersetzen. Das heißt, ich übersetze die antiken Texte wörtlich und ich versuche, den Gedanken der damaligen Autoren treu zu bleiben. Ich übersetze ihre Sprachbilder, das sind Metaphern und Allegorien, wörtlich. Ich verwende möglichst keine neuzeitigen Fachtermini, um antike chinesische Fachtermini zu übersetzen. Nur so komme ich den Gedankengängen der antiken Autoren auf die Spur. Das gefällt nicht jedem, da die Texte, wenn sie philologisch übersetzt werden, nicht modern wissenschaftlich aussehen. Aber das soll nicht das Ziel sein. Der Ideenhistoriker möchte Vergleiche ziehen zwischen der Antike und der Gegenwart und zwischen China und Europa. Dazu muss man den Originaltexten so treu wie möglich bleiben.
Auf der Grundlage meiner Studien habe ich eine große Bewunderung für die Vernunft gewonnen, die chinesischem Handeln nicht zuletzt in der Politik zugrunde liegt. Und ich habe allmählich verstanden, welches die unterschiedlichen kulturellen Schwerpunkte chinesischer und europäischer Kulturen sind. Tatsächlich eignet sich kein Gebiet so gut, eine fremde Kultur kennenzulernen wie dessen Medizin. Da ist alles enthalten: Wissenschaft, Religion und Aberglaube, Technologie, Wirtschaft, Gesellschaftsstruktur und Gesellschaftspolitik, Ökonomie und Semantik, die natürliche Umwelt und vieles mehr. Medizin ist nicht nur Heilkunde. Medizin ist ein getreuer Spiegel der sie umgebenden Kultur.